Als Florian Wirtz seinen Platz suchte, waren die Fußball-Paparazzi auf Zack. Sie verfolgten den Jungnationalspieler, als dieser sich neben flachsenden Mitspielern auf die Ersatzbank begab – erstmals in dieser Saison und notgedrungen nach einer „leichten Verletzung“ von der Länderspielreise. Eine kleine Serie war gerissen, eine andere, lange Serie, blieb bestehen. Denn wenn man sich auf etwas im Bundesliga-Fußball verlassen kann, dann ist das die Tatsache, dass es im Duell zwischen Bayer Leverkusen und Eintracht Frankfurt immer Tore geben wird. In 78 Erstliga-Duellen der Klubs gab es nie eine Nullnummer, dafür viele Spiele mit fünf oder mehr Treffern, gerne auch fünf oder sechs für ein Team.
Auch am Samstag herrschte schnell Gewissheit, dass es wieder Analysen geben würde zu Fehlern, die zu Gegentoren führten. Und zu Fehlern, die erstaunlicherweise nicht zu Toren führten. Der Höhepunkt einer Partie, die zu den spektakulärsten der vergangenen Jahre gehörte, folgte in der Nachspielzeit: Bayer-Torwart Lukas Hradecky wollte den Ball beim Stand von 2:1 aus der Gefahrenzone bolzen, doch er traf knapp vor der Strafraumgrenze bloß seinen Innenverteidiger Jonathan Tah („Der ist einfach so groß“); der Ball titschte Richtung Torlinie, der Frankfurter Hugo Ekitiké sprang ein wenig zu früh und konnte den Ball nicht hart genug treffen.
Kurz bevor er landete, gab ihm der zurückgeeilte Tah noch in der Luft mit dem linken Ellbogen einen Schubser, den der Stürmer der Eintracht nicht ausgleichen konnte. Er fiel und Tah traf ihn auch noch am Boden liegend mit dem Fuß. Leverkusen konnte die Situation klären. Anschließend reklamierten beide Parteien, ihre Sicht der Dinge sei die einzig richtige – aber warum Schiedsrichter Felix Brych, der an diesem Nachmittag schon zwei Videobeweise angestrengt hatte und bereits nach zehn Minuten schwitzte, als hätte man ihn in der Sauna vergessen, sich die Szene nicht mehr anguckte und warum ihn Videoschiedsrichter Günter Perl nicht ermutigte, die Szene noch einmal anzugucken, sollte ihr Geheimnis bleiben.
Er schätze Brych, sagte Eintracht-Trainer Dino Toppmöller im Anschluss: „Aber die Leistung heute, da bin ich ein bisschen sprachlos. Leider waren nicht alle auf dem Feld heute in Topform. Das hätte dieses Spiel verdient gehabt.“
Ekitiké sei „in der Luft“ gewesen, dann bekomme er den Kontakt von hinten. „Da verlierst du deine Balance“, sagte Toppmöller: „Er köpft ihn sonst aus drei Metern ins leere Tor. Wenn Brych das nicht sieht und überprüft, dann brauchen wir den Videobeweis auch nicht. Das hat uns extrem geärgert, die Jungs sind sehr sauer.“ Leverkusens Sportchef Simon Rolfes sah es anders: „Du darfst noch Menschen berühren, wir spielen ja nicht kontaktlos“, sagte er. Robert Andrich erkannte eher mangelndes Timing beim Frankfurter Stürmer: „Er steht zu früh in der Luft“, sagte der Nationalspieler.
Von den beiden vorangegangenen Elfmetern hatte Victor Boniface jenen für Leverkusen ganz schwach in die Arme von Kevin Trapp geschossen (9. Minute), während Omar Marmoush sechs Minuten später seinen Lauf bestätigte, indem er den Elfmeter (nach einem Foul von Robert Andrich auf der Strafraumlinie) zum 0:1 nutzte. „Die Aussage zu mir war, wenn ich ihn bei Frankfurt geben muss, muss ich ihn bei Leverkusen auch geben. So eine Aussage verstehe ich nicht“, berichtete Andrich nach dem Spiel von einem Dialog mit dem Unparteiischen. Vor dem ersten VAR-Fall schaute Brych fast vier Minuten lang auf den Bildschirm, bis er zu einer Entscheidung kam. Vermutlich auch deswegen wunderten sich die Frankfurter, warum er es in der Situation mit Tah und Ekitiké nicht tat.
Den Meister brachte der Rückstand jedenfalls nicht groß aus der Fassung, und nach der zuckersüßen Kombination über Andrich und Amine Adli sowie dem Doppelpass von Andrich und Martin Terrier und dem krönenden, flachen Direktschuss des deutschen Nationalspielers ins entfernte Eck stand es gerechterweise 1:1 (25.).
Leverkusens Meistertrainer Xabi Alonso verfolgt die Erinnerung an das 1:5 in Frankfurt aus seinem zweiten Spiel als Bundesliga-Coach: Eine Woche nach dem 4:0 bei seinem Debüt vor fast genau zwei Jahren an der Seitenlinie gegen Schalke 04 wurde Alonsos Team gnadenlos hergespielt, denn nach dem 1:1 fiel der Werksklub von der anderen Rheinseite in sich zusammen – und Alonso bekam einen Schnellkennlernkurs, warum die teure Mannschaft damals auf einem Abstiegsplatz lag. Vermutlich wäre der irre Wandel von Bayer 04 vom Abstiegskandidaten zum Meister ohne diese Demütigung nicht so schnell verlaufen; Alonso sah, dass Spieler wie Amiri und Demirbay nicht in sein Team passten (weder auf dem Platz noch vor den TV-Mikros) und baute die ideale Achse um Tah, Andrich und Xhaka sowie Wirtz und Boniface.
Zuletzt verspielte Leverkusen häufig Führungen – diesmal nicht
Der Blick zurück hilft auch dabei zu verstehen, wie beide Teams in diese Saison gestartet sind. Frankfurt hat sich dank Marmoush und Etikité zu einer der gemeingefährlichsten Kontermaschinen der Liga verwandelt. Bei Leverkusen fehlte im Vergleich zur Vorsaison, als man im Liga-Endspurt unter anderem 5:1 am Main triumphierte und quasi jedes knappe Spiel im Schlussspurt herumriss, bisher in jeder Sparte ein Bisschen – doch im aufwendigen und riskanten System von Xabi Alonso reicht das Bisschen, um gewaltig aus dem Takt zu kommen. Natürlich kann es auch Leverkusen treffen, niemand hatte angenommen, dass die Werkself nie wieder verlieren würde – aber die Art, wie Leverkusen zu Beginn der Saison Teams wie Gladbach (nach einer 2:0-Führung), Wolfsburg (nach 2:1), Leipzig (2:0) und zuletzt sogar Aufsteiger Kiel (2:0) wieder ins Spiel zurückkommen ließ, war nicht nur leichtfertig, sondern frappierend. Nach sechs Spielen hatte der Meister wenig meisterliche sieben Punkte verspielt. Zum Vergleich: Am Saisonende 2023/2024 waren es insgesamt … null!
All das hatte dazu geführt, dass es an Selbstvertrauen mangelte. Es gab zwar schon Passagen, in denen Bayer meisterlich aufspielte (gerade auch gegen Leipzig), aber nur in einer bestimmten Phase. Prompt häufen sich die abfälligen Gesten, meistens von oder wegen Boniface, den diesmal interessanterweise nach seinem vergebenen Strafstoß kein Mitspieler tröstete.
Das alles hinderte Bayer 04 nicht daran, die bisher beste Saisonleistung zu zeigen. So lange Wirtz draußen blieb, näherten sich die Kleinklein-Experten aus Leverkusen oft mit langen Diagonalpässen dem gegnerischen Strafraum. Insgesamt spielten die Gastgeber neun Großchancen heraus, und als Wirtz aufs Feld kam (65.), machte er das Spiel kleinteiliger und noch gefährlicher – und Bayer dominierte dank seiner spielerischen Klasse. Das überfällige 2:1, bei dem Wirtz plötzlich über rechts kam und Boniface die Flanke per Kopf einnickte, verlängerte zwei andere Serien: Leverkusen gewann daheim zum zehnten Mal nacheinander in der Bundesliga gegen Frankfurt, und Torwart Kevin Trapp, der bei Bonifaces Siegtor (72.) unglücklich aussah, kann in Leverkusen einfach nicht punkten.
Allerdings muss man sagen: Auch wenn der Sieg verdient war, hätte sich niemand über einen zweiten Elfmeter für Frankfurt beschweren dürfen. Und dann hätte es plötzlich ganz andere Diskussionen gegeben.