Letzte Tage der Wechselperiode:Europa im Domino-Wahn

In wenigen Stunden schließt das Transferfenster. Bis dahin werden Hochkaräter verschoben. Kevin De Bruyne landet in Manchester. Aber landet Julian Draxler in Turin? Ein Überblick.

Von Filippo Cataldo, München

Früher, sagt der Spielerberater Jörg Neblung, galten bei Transfers zwei Grundsätze: "Schnell frisst langsam. Reich frisst arm." Weiterhin gilt: Liquidität hilft - auf einem völlig überhitzten Transfermarkt mehr denn je. Doch um Geschwindigkeit geht es nur noch eingeschränkt. Spieler, Berater und Klubverantwortliche scheinen den Vollzug von Transfers so lange wie möglich hinauszuzögern.

Wo früher in der letzten Augustwoche gewöhnlich der Schlussverkauf öffnete, auf dem sich vor allem Manager von Problemklubs auf der verzweifelten Suche nach Schnäppchen tummelten, werden nun auch Sternchen, Stars und Superstars im letzten Augenblick inflationär hoch gehandelt. "Die Bundesliga hat sich an die internationalen Gepflogenheiten angepasst", sagt Neblung, der frühere Berater und Freund des verstorbenen Nationaltorhüters Robert Enke.

Manager und Berater sind im Dominowahn: Fällt ein Stein, fallen alle. Klappt ein Wechsel, fällt eine neue Reihe. Sofort. Und rasend schnell.

Am Dienstag, um 18 Uhr, schließt in England der Transfermarkt (übriges Europa: 24 Stunden vorher). Bis dahin werden viele der sich abzeichnenden Wunschtransfers vollzogen sein. Manche Dominosteine scheinen bereits zu liegen. Manche aber könnten auch im letzten Augenblick noch in eine andere Richtung fallen.

Höjbjerg - Draxler - Coman

Am Freitag hat sich Pierre-Emile Höjbjerg für eine Saison dem FC Schalke 04 angeschlossen. Überraschend war dabei nicht der Wechsel, sondern die Klubwahl. Allseits erwartet worden war eine Leihe nach Leverkusen, noch eine Stunde vor der Verkündung hatte Bayer-Trainer Roger Schmidt den Mittelfeldspieler gelobt. Doch für Schalke, den FC Bayern und Juventus Turin war Höjbjerg, 20, in diesem Fall nur der erste Dominostein einer komplexen Transferoperation.

Bayern schaffte durch die Ausleihe des Dänen Platz im Kader für Offensivmann Kingsley Coman, 19. Am vielseitigen Offensivspieler waren die Münchner bereits in der vergangenen Saison interessiert, er könnte langfristig die Nachfolge von Franck Ribéry und Arjen Robben antreten. Coman stammt aus Paris und war erst vorige Saison zu Juventus gewechselt, bat aber wegen mangelnder Einsatzzeiten bei Italiens Rekordmeister um die Freigabe. Das bestätigte Juves Trainer Massimiliano Allegri. Tatsächlich hat Coman die meisten seiner 22 Pflichtspiele für Juve als Einwechselspieler bestritten. Ob es bei Bayern - sollte der Transfer klappen - wirklich mehr werden, bleibt abzuwarten. Coman wäre eine nicht ganz günstige, aber überschaubar riskante Wette auf die Zukunft. Laut der "Gazzetta dello Sport" wird Bayern Coman zunächst für zwei Jahre ausleihen. Fürs erste Jahr erhalte Juve fünf Millionen Leihgebühr, fürs zweite zwei Millionen. Würde Coman einschlagen, wären danach weitere 21 Millionen Euro fällig.

Allegri hätte Coman gerne behalten. Doch durch das "Opfern" ("Gazzetta") des Offensivspielers werde Geld frei, um endlich das Angebot für Julian Draxler, 21, den absoluten Wunschspieler des Trainers, zu erhöhen. Das vom europäischen Verband Uefa verordnete Financial Fairplay (FFP) gilt natürlich auch in Italien. Ohne die zusätzlichen Einnahmen hätte Juve das Angebot für den Weltmeister nicht erhöhen können. Laut "Gazzetta dello Sport" bietet Juve nunmehr auch offiziell die von Schalke geforderten 26 Millionen Euro Ablöse plus Boni von rund 6,5 Millionen. Draxler soll bei Juve die Lücke schließen, die Arturo Vidals Abgang nach München geöffnet hat. Er soll gemeinsam mit dem Franzosen Paul Pogba das Spiel der Turiner ankurbeln.

Der VfL Wolfsburg als Verkaufsverein

Sorgen wegen der Finanzkontrolleure der Uefa wird sich der VfL Wolfsburg in den kommenden Transferperioden kaum mehr machen müssen. Auf den letzten Metern wird der Vizemeister und Pokalsieger durch den Verkauf von zwei Profis annähernd 100 Millionen Euro einnehmen. Kevin De Bruyne flog am Samstag zum Medizin-Check nach Manchester, dort soll er bei ManCity einen Vertrag unterschreiben. Wolfsburg soll für De Bruyne mehr als 75 Millionen Euro Ablöse kassieren, damit wäre der Belgier bislang der teuerste Transfer dieses Sommers. Angesichts der schwindelerregenden Ablöse für De Bruyne wirken die 20 Millionen Euro, die Inter Mailand für den Kroaten Ivan Perisic zahlen wird, natürlich nicht gar so spektakulär. Trotzdem: 20 Millionen Euro! Für Ivan Perisic!

Kölns Manager Jörg Schmadtke ist nicht der Einzige, den Ablösesummen in solcher Höhe kritisch stimmen: "In meinen Augen sind die Entwicklungen momentan gefährlich, weil das am Ende bedeutet, dass das Geld nichts mehr wert ist. Wir spielen gerade Monopoly", sagte er beim Fernsehsender Sky, "es ist schwierig, weil solche Transfers auch Balancen verändern, die über Jahre entstanden sind. Wir werden sehen, wohin das führt, ob das der Anfang ist oder das Ende." Nur zum Vergleich: 2009 zahlte Bayern für Arjen Robben, damals schon mit dem Prädikat "Superstar" versehen, offiziell 24 Millionen Euro an Real Madrid.

Wolfsburg soll dem Vernehmen nach zuletzt auch versucht haben, einen großen Domino-Transfer zu verwirklichen und Draxlers Berater kontaktiert haben. Weil Draxler offenbar lieber in der Serie A spielt, scheint es Wolfsburg nun bei zwei Stuttgartern zu versuchen. Daniel Didavi und Filip Kostic vom VfB gelten als Kandidaten beim VfL. Sportchef Klaus Allofs bestätigte außerdem Gespräche mit Ismail Azzaoui, 17, von Tottenham Hotspur. Der offensive Mittelfeldspieler war beim 3:0 Wolfsburgs gegen Schalke am Freitag bereits im Stadion.

Sogar der Hamburger SV profitiert

Dass Dominosteine sich auch ein Jahr später noch einmal bewegen - und Geld bringen - können, beweist der Wechsel von Heung-Min Son nach England. Von den 30 Millionen Euro, die Leverkusen von Tottenham Hotspur für den Südkoreaner erhält, muss der Bundesligist 2,5 Millionen Euro an den HSV weiterreichen. Son, 23, ist in Hamburg ausgebildet worden. Doch auch 27,5 Millionen Euro sind heute noch genug Geld, um Spieler zu verpflichten. Während Son seinen Medizincheck in London absolvierte, verpflichtete Leverkusen Kevin Kampl, 24, aus Dortmund. Der Flügelspieler arbeitete bereits in Salzburg mit Leverkusens Trainer Roger Schmidt zusammen, er gilt als einer seiner Lieblingsschüler. Die elf Millionen Euro, die Kampl gekostet hat, hätte sich Leverkusen übrigens mit ein bisschen Weitblick sparen können: Kampl stammt aus der Jugendabteilung von Bayer, war 2010 aber ablösefrei nach Fürth transferiert worden. Das Dominospiel wird auch so am Laufen gehalten.

Letzte Gewissheit und damit Planungssicherheit wird es also erst am Dienstag geben, sobald die Premier League in England ihren Markt geschlossen hat. Dann ist Ruhe. Aber die wird nicht lange anhalten. In der Winterpause öffnet das Transferfenster wieder: Dann fallen im Domino die neuen Steine.

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