Süddeutsche Zeitung

Radfahrer Kämna:Testballon an der Adriaküste

Lesezeit: 4 min

Radprofi Lennard Kämna wagt in diesem Jahr den Versuch, sich als Klassementfahrer zu etablieren. Der erste Stresstest bei Tirreno - Adriatico verlief vielversprechend - doch der 26-Jährige und sein Team wissen um die vielen Stolperfallen.

Von Johannes Knuth

Lennard Kämna blickte etwas verlegen zur Seite, er schien sich noch mal versichern zu wollen bei den Honoratioren, die mit ihm auf dem Siegerpodest standen: Durfte er jetzt endlich die Champagnerflasche entkorken?

So oft war ihm bei einer Rundfahrt ja noch nicht die Ehre zuteil geworden, das Trikot des Führenden im Gesamtklassement entgegenzunehmen. Das war ihm nun bei der Fernfahrt Tirreno - Adriatico geglückt, auf der vierten Etappe, nach 218 Kilometern und einer knackigen Rampe hinauf zum Ziel in Tortoreto. Die Honoratioren auf dem Siegerpodest gaben die Champagnerdusche nun jedenfalls frei, und die spulte Kämna so engagiert ab, dass die Ehrengäste ein paar Schritte in Deckung tippelten.

Für den Gesamtsieg nach einer Woche durch den Apennin reichte es für ihn am Ende zwar nicht - der wanderte an Primoz Roglic, den dreimaligen Vuelta-Gewinner. Aber Platz vier, 34 Sekunden hinter Roglic, das waren Neuigkeiten, die einige in der Szene herbeigesehnt haben dürften. Seit Kämna 2014 WM-Gold im Zeitfahren der Junioren gewann und schon damals zeigte, wie flott er die Berge hinaufkommt, begleitet ihn diese Hoffnung wie ein Schatten: dass er bei den Profis irgendwann bei den dreiwöchigen Rundfahrten mitmischen könnte.

Der deutsche Radsport, der nach den Dopingjahren lange mit Sprintern und Zeitfahrern auffiel, entdeckt ja seit ein paar Jahren den Kletterpfad und die Gesamtklassements wieder, auch wenn das Geschäft zäh ist, die Zweifel an der Redlichkeit der Branchenführer weiter mitradeln. Für Kämna ist diese Saison jedenfalls die erste, in der er sich mit seinem Bora-Hansgrohe-Team explizit ans Gesamtklassement wagt: "Ich bin jetzt 26", sagt er, die Zeit sei gekommen, in der man sage: "Okay, man probiert es jetzt mal."

Die Tour de France wird er dieses Mal auslassen - eine Lehre aus dem Vorjahr

Tirreno - Adriatico war der erste kleine Testballon. Der erste große soll beim Giro d'Italia steigen, der am 6. Mai an der Adriaküste anbricht, diesmal mit allein drei Zeitfahren, die Kämna ja sehr schmecken. Im vergangenen Jahr sprang er beim Giro noch früh in die Ausreißergruppen, er gewann eine Etappe, mit diesen Tagesausflügen kennt er sich mittlerweile aus. Aber wer drei Wochen lang dabei sein will, der darf bei keiner Windkante pennen, muss immer parat sein, wenn es zur Sache geht in den Bergen. Das wollen sie mit Kämna bei diesem Giro einstudieren: so wenig Zeit wie möglich in der ersten Woche verlieren, im Zeitfahren zu Beginn vielleicht sogar etwas vorlegen. "Und dann schauen, wie weit ich komme", sagt er.

Kämna kippt seine Gedanken nicht freimütig aus, man muss bei ihm schon nachbohren, wie seine "irgendwie ganz entspannte" Saisonpause zuletzt aussah. Und dann stößt man eher nicht auf Fallschirmsprungabenteuer, sondern eine Woche Urlaub in Irland und Zeit bei Eltern und Freunden in Fischerhude bei Bremen.

Zum anderen hat Kämna früh gelernt, dass es sich in seinem Sport lohnen kann, die Ziele mit einem Schuss Zurückhaltung abzuschmecken. Vor einem Jahr war er nach Giro und Tour so geschafft, dass er die WM und die Deutschland-Tour verpasste. Die Tour wird er diesmal auslassen, und beim Giro ist erst mal Alexander Wlasow der Kapitän; in Abwesenheit von Vorjahressieger Jai Hindley, mit dem Bora für die Frankreich-Schleife plant. "Ich sehe mich da als jemanden, der sich im Schatten des Größeren ausprobieren darf", sagt Kämna. Man werde beim Giro auch nicht gleich jede Lücke zufahren, die Kämna auf die Favoriten reißen sollte, sagt sein Sportdirektor Rolf Aldag, "auch, um ihn nicht wieder unter Stress zu setzen".

Knapp zwei Jahre ist es her, kurz vor dem Start der Tour de France in Brest, da hielt Kämnas Teamchef Ralph Denk einen bemerkenswerten Vortrag. Sie hatten Kämna damals für das Aufgebot eingeplant, er hatte sich da schon einen Namen gemacht als Etappensieger bei der Dauphiné und der Tour. Und dann: Hatte er sich vor dem Höhepunkt zu sehr verausgabt, selbst als eine Krankheit im Anflug war. "Da war er sich und uns gegenüber nicht ehrlich", sagte Denk. Es folgten: Zwangspause und die Lehre: "Er hat gelernt, auch uns öfter ein Update über seinen körperlichen Zustand zu geben", so Denk. Zwei Jahre zuvor hatte ihn sein damaliges Team Sunweb schon mal sechs Wochen aus dem Betrieb genommen. Später sagte Kämna: "Ich war gesundheitlich und mental ein bisschen am Limit."

Denk ist auch deshalb vorsichtig, weil ihm schon mal eine große Hoffnung zerbrach: Dominik Nerz, der seine Sorgen und Sturzfolgen zum Teil für sich behielt. Damals wuchs Denks Team noch, heute können sich die Fahrer an Vertrauenspersonen wenden, wenn sie Probleme verspüren. Aber selbst das ist keine Garantie, man sah es bei Kämna, auch bei Emanuel Buchmann. Der war 2019 Vierter bei der Tour, stürzte und verletzte sich danach immer wieder. In diesem Jahr soll es in Frankreich besser laufen, endlich wieder.

Kein Wunder, dass Kämna seine Ziele lieber im Ungefähren hält. Sie haben ihn natürlich von Kopf bis Fuß vermessen im Team, 1,81 Meter groß, 65 Kilo schwer, viel Kraft auf der Straße und am Berg. Auch im Zeitfahren habe er noch mal einen "großen Schritt" gemacht, sagt er, bei Tirreno - Adriatico war in dieser Übung nur Weltmeister Filippo Ganna schneller. Aber wie nachhaltig er dieses Können über drei Wochen spannen kann? Das weiß er erst, wenn er es ausprobiert, wie ein Triathlet, der sich zum ersten Mal an die Langdistanz wagt. Und die Konkurrenz wird schon beim Giro stark sein; Roglic hat sich erneut angekündigt, auch Remco Evenepoel, der im Vorjahr die Straßenrad-WM und die Vuelta gewann, mit 22 Jahren.

Da ist auch eine spannende Frage: Ob Kämna, der früher ohne Tacho fuhr, nach Gefühl und Laune attackierte - ob der nun glücklich dabei wird, wenn er drei Wochen lang geduldig mit den Favoriten strampeln muss, dabei irgendwann auch eine Mannschaft als Kapitän dirigieren soll? Probieren will er es: "Ich hoffe, dass ich die Rennen auch offensiv aus der Hauptgruppe gestalten kann", sagt er, "aber das ist ein Riesenschritt, da muss ich geduldig sein." Und wenn es doch früher klappt: Das Protokoll bei der Siegerehrung kennt er jetzt allmählich.

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