Süddeutsche Zeitung

Lena Dürr in Spindlermühle:Alle Puzzleteile beisammen

Am Tag, an dem alle mit Mikaela Shiffrins 86. Weltcup-Erfolg rechnen, ist Lena Dürr um sechs Hundertstelsekunden schneller: Die Deutsche belohnt sich mit ihrem ersten Sieg im Slalom - nach eine jahrelangen Reise voller Rückschläge.

Von Johannes Knuth

So offenbart sich ein großer Moment ja gerne: gar nicht mal so glamourös, wie man ihn sich vielleicht ausgemalt hat. Lena Dürr, so wirkte es zumindest aus der Ferne, war am Sonntag, kurz nach dem Slalom in Spindlermühle, erst einmal mit dem Protokoll beschäftigt, das der Weltverband Fis den Besten eines Rennens diktiert. Die Athletinnen kramen im Zielraum dann hektisch ihre Skier zusammen, damit sie deren Logos in alle Kameras halten können, beim ersten Gruppenfoto, bei der Siegerehrung, so geht das im Sekundentakt. Auch Dürr hatte nun damit zu tun, ihre Ausrüstung beisammenzuhalten, während die ersten Gratulantinnen vorstellig wurden. Aber die 31-Jährige sonnte sich dann schon noch in ihrer Freude - an einem Tag, den der eine oder andere vielleicht nicht mehr unbedingt für möglich gehalten hatte.

Dieser Triumph am Sonntag im tschechischen Riesengebirge war Lena Dürrs erster in einem Slalom im Weltcup, der zweite überhaupt in der höchsten Liga des Alpinsports. Dürr hatte schon 2013 einmal gewonnen, bei einem Parallelrennen auf einer Stahlrampe in Moskau, aber erstens empfinden nicht wenige solche Parallelevents in etwa als so wertvoll wie Schokoladenmedaillen versus Olympiaplaketten; zweitens ist der Slalom Dürrs Leib- und Magendisziplin.

Die zehn Jahre, die sich zwischen ihrem ersten und zweiten Sieg spannten, legen freilich schon nahe, dass sie nicht immer der direkten Route im Navigationsgerät ihres Sportlerlebens gefolgt war. Die Pointe, die sie sich nun ausgedacht hatte, war dafür auch nicht schlecht: Als alle damit rechneten, dass Mikaela Shiffrin Ingemar Stenmarks 86 Weltcup-Siege egalisieren würde, war die Athletin vom SV Germering sechs Hundertstelsekunden schneller. Die letzte deutsche Slalomfahrerin, die einen Weltcup gewonnen hatte, war Maria Höfl-Riesch, 2012 in Levi.

Manchmal sind es eben nicht die großen Sätze, die an die Spitze führen, sondern viele kleine Schritte; Schritte in jede erdenkliche Richtung. Vor knapp einem Jahrzehnt, rund um Dürrs Premierensieg und WM-Bronze mit dem Team, schwärmten die Trainer schon von dieser Fahrerin mit den schnellen Schwüngen und einem Kopf, der frei sei von Zweifeln. Dann fand Dürr im Olympiawinter 2013/14 schwer in die Saison, zweifelte und haderte doch, verpasste die Spiele, wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte: dass es plötzlich nicht mehr weitergeht.

Alles, was sie zu ersten Erfolgen getragen hatte, lief nun im Rückwärtsgang ab. Sie zweifelte, fuhr unsauber, wechselte den Ski-Ausrüster, zweifelte noch mehr. Vor knapp vier Jahren hatte Jürgen Graller, ihr damaliger Cheftrainer, genug vom "Dahinwurschteln": Dürr verlor für eine Weile ihren Kaderstatus. Sie verstand das zunächst nicht - weshalb sollte sie noch ein Umweg nun schneller zum Ziel führen? Später sagte sie, dass die Zeit sie sehr "geprägt" habe. Dürr musste sich damals eine eigene Trainingsgruppe suchen, musste die Skier selbst präparieren, was zuvor ein Servicemann erledigt hatte. Als sie wieder ihre alten Privilegien erhielt, war vieles, das Athleten schnell für selbstverständlich erachten, keine Selbstverständlichkeit mehr.

"Manchmal muss man sich selbst überraschen", sagt Dürr an ihrem großen Tag

Der Eisberg an Zweifeln taute nun allmählich ab. Dürr sammelte erste Podestplätze in den Slaloms, ein paar heftige Enttäuschungen dazu, vor allem bei den Winterspielen 2022: Da war sie bis zur letzten Zwischenzeit Olympiasiegerin. Platz vier, mickrige 19 Hundertstelsekunden hinter der Goldmedaille, sahen manche vielleicht als Bestätigung, dass Dürr die letzte eiserne Konsequenz im Rennen abgeht. Aber sie führte schon immer eine stille Beharrlichkeit mit sich, und die trug sie nun weiter, zu Olympiasilber im Team-Event und hinein in diesen Winter. "Man lernt aus guten und schlechten Zeiten", sagte sie am Sonntag, es sei nun mal so: "Skifahren ist ein großes Puzzle." Frei übersetzt: Manchmal dauert es, bis man alle Teile beisammenhat.

Als Andreas Puelacher, der neue Cheftrainer der deutschen Skirennfahrerinnen, Dürr vor der Saison kennenlernte, sah er eine "Leaderin", die wisse, was sie wolle und was nicht. Die ihre Teamkolleginnen mitziehe und sich auch über deren Erfolg freue, über Emma Aicher, Jessica Hilzinger und Andrea Filser, die am Sonntag 14., 21. und 29. wurden. Und die jetzt die letzten Teile zusammensetzte, zuletzt in Flachau zum Beispiel. Dürr war da schon schneller als Shiffrin und Petra Vlhova, die langjährigen Branchenführerinnen, baute nur einen schweren Fehler ein.

Aber Puelacher sah es als Bote des Fortschritts: Vierte, dritte und zweite Plätze hatte Dürr genug gesammelt, wer ganz vorne sein will, muss auch mal so sehr riskieren, dass es sie abwirft. Am Samstag, im ersten Slalom des Wochenendes, war Dürr mit Abstand die Beste hinter Shiffrin, am Sonntag wirkte die Amerikanerin dann auch ein bisschen müde im siebten Rennen binnen zehn Tagen. "Ich hätte nicht gedacht, dass es heute klappt", sagte Dürr, "aber manchmal muss man sich selbst überraschen."

"Was mich am meisten freut, ist, dass sie jetzt die Lockerheit hat, schnell zu fahren", sagte Andreas Puelacher. Es gibt schlechtere Zeitpunkte: Der nächste Slalom ist in Courchevel angesetzt, bei den Weltmeisterschaften.

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