Süddeutsche Zeitung

Leipzig siegt in London:Willkommen auf der Party

Lesezeit: 3 min

Von Christof Kneer

Wenn man neu irgendwo hinkommt, ist man natürlich höflich, aber meistens auch ein bisschen zurückhaltend. Der richtige Tonfall ist wichtig in einer neuen Gesellschaft, man will nicht schüchtern wirken, aber auch nicht der Typ sein, der gleich die besten Witze macht. Die ersten Pointen überlässt man am Anfang sicherheitshalber dem Gastgeber, mit zunehmender Dauer des Abends darf man dann ruhig ein bisschen lockerer werden.

Der junge Fußballklub RB Leipzig hat von dieser Art Knigge aber womöglich noch nie etwas gehört, jedenfalls hat er sich ziemlich knackig vorgestellt auf dieser Party, auf die er zum allerersten Mal eingeladen war. Zum ersten Mal war RB Leipzig in die heiligsten Hallen der Champions League vorgedrungen, die Leipziger durften in der K.o.-Runde mit den Besten feiern, und es dauerte nicht mal anderthalb Minuten, bis sogar der berühmte Partygast José Mourinho merkte, dass die Neuen da waren.

Im Achtelfinal-Hinspiel bei Tottenham Hotspur hatte RB in den ersten anderthalb Minuten gleich vier Großchancen, das ist vermutlich nur deshalb kein Rekord, weil sich bisher noch keiner die Mühe gemacht hat, die Statistik "Großchancen nach anderthalb Minuten" zu führen. Nach 28 Sekunden schoss RB-Angreifer Schick knapp vorbei, und eine halbe Minute später reihte RB dann drei Chancen aneinander: Tottenhams Verteidiger Sanchez blockt einen Schuss von Timo Werner ab, den Abpraller donnert RB-Verteidiger Angelino ins Eck, Keeper Lloris reagiert glänzend, der Ball kommt wieder zu Werner, Schuss, wieder hält Lloris. Willkommen im Achtelfinale, RB Leipzig!

Diese ersten anderthalb Minuten reichten schon, um zu begreifen, welchen Plan der Tabellenzweite der Bundesliga verfolgte. Die Idee war, offensiv mit den eigenen Defiziten umzugehen. Neben den verletzten Verteidigern Orban und Konaté hatte sich auch noch Abwehrchef Upamecano wegen einer Gelbsperre abgemeldet, so dass Trainer Julian Nagelsmann auf seine komplette Stamm-Verteidigung verzichten musste und einen 19-Jährigen namens Ethan Ampadu zum Zentralspieler in einer Dreierabwehr beförderte. Immerhin hatte Nagelsmann eine Aufstellung gewählt, die so viel defensive Verlässlichkeit wie möglich versprach, seine offensiven Supertechniker Forsberg und Olmo ließ er auf der Bank.

Dennoch hatte der Trainer eine mutige Spielweise in Auftrag gegeben, die sich auszahlen sollte: Die frechen Leipziger nahmen aus London einen 1:0-Auswärtssieg mit nach Hause - ein überraschendes Resultat, das ihnen eine ausgezeichnete Perspektive bietet, um im Rückspiel erstmals ins Viertelfinale einzuziehen. "Unser Matchplan ist voll aufgegangen. Wir haben hinten Tottenhams langen Bälle und Flanken weg verteidigt und nach vorne sehr guten Fußball gespielt. Wir waren überrascht, dass wir so viel Ballbesitz hatten, haben daraus aber viele Chancen gemacht", analysierte Timo Werner später im Sky-Interview.

Von Beginn an hatte dieses Spiel ja eine interessante Versuchsanordnung geboten: Während Leipzig ohne erste Abwehr spielen musste, blieb der Elf des Trainers Mourinho nichts anderes übrig, als es ohne ersten Sturm zu versuchen. Tottenhams Weltklasse-Angreifer Harry Kane und Heung-min Son mussten wegen Verletzungen ebenso passen wie die drei Leipziger Verteidiger, und so stand das Thema des Spiels schon vorher fest: Wer würde besser mit seinen Verlusten umgehen?

Ein ungelenkes Foul, ein eindeutiger Elfmeter - Timo Werner verwandelt sicher

Die Antwort hieß "Leipzig", und so kam RB durch Schick (17.) und Werner (36.) zu weiteren großformatigen Chancen. Nagelsmanns Elf tat so, als sei ihr die geschwächte Abwehr total egal, die einstige Konter-Elf RB dominierte das Spiel, und es wurde nicht ganz klar, ob Mourinhos Team in einem Heimspiel bewusst auf Konter lauerte oder ob gar nicht anders konnte, als vor diesen kessen Leipzigern zurückzuweichen.

Nicht immer sagen Zahlen die Wahrheit über ein Spiel, aber den Zahlen zur Halbzeit durfte man trauen: 66 Prozent Ballbesitz, 13:3 Torschüsse - vieles sprach für Leipzig, nur auf der Anzeigetafel stand eine Null. Um auch in dieser relevantesten aller Statistiken in Führung zu gehen, benötigte RB gegnerische Hilfe: Bemerkenswert ungelenk bremste Tottenhams Davies im Strafraum den Leipziger Laimer, Schiedsrichter Cakir entschied sofort auf Elfmeter. Timo Werner verwandelte souverän (58.). Er habe bei dem Elfmeter "alles in den Schuss reingehauen, als wäre es mein letzter heute. Das hat gut geklappt."

Eine verdiente Führung war das, aus der am Ende ein verdienter Sieg wurde, auch wenn RB gegen nun stürmischere Gastgeber noch kritische Momente überstehen musste - was auch dank Torwart Gulacsi gelang, der freundlicherweise all das hielt, was die Ersatzabwehr durchließ.

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SZ vom 20.02.2020
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