Der Dienstag neigte sich seinem Ende zu, und auf der Avenida Antonio Machado Santos in Lissabon ballten sich doch noch ein paar Fans - in der Hoffnung, von einer Anhöhe herab das einzig mögliche Fan-Feeling zu bekommen, das diese Champions League in Zeiten der Pandemie zu bieten hat. Im Schatten der Polizisten mit ihren hellblauen Hemden und den Visieren aus Plastik standen dort Frauen mit ihren Söhnen, Männer mit ihren Töchtern, Halbstarke mit ihren Freunden, ein Bub trug ein PSG-Trikot von Neymar Jr.
Sie alle blickten voller Hoffnung auf die Garageneinfahrt des Estádio Da Luz des örtlichen Klubs SL Benfica, das zuvor Schauplatz war des ersten Halbfinales zwischen Paris St.-Germain und RB Leipzig. Wer weiß, vor welchen Fernsehschirmen sie das für sie unerreichbare Spiel gesehen hatten, den klaren und auch überaus verdienten 3:0 (2:0)-Sieg der Franzosen gegen den Bundesligisten. Am Ende musste es all diesen Fans reichen, einen Blick auf die Mannschaftsbusse zu erheischen.
Einen Moment der Kontemplation hatte es auch zuvor gegeben, genauer: nach dem Ende der Partie. Yussuf Poulsen, Leipzigs Kapitän, hatte sich auf den Rasen gesetzt, den er zuvor ohne Glück beackert hatte, und er ließ den Blick durch dieses legendäre Stadion mit seinen Streben und den roten Bögen auf dem Dach schweifen: "Es ging darum, die Situation zu genießen, sich durch den Kopf gehen zu lassen, was wir erreicht haben ...", sagte Poulsen. Und wer weiß, womöglich warf er in Gedanken den Blick noch viel weiter zurück - bis zu jenem Tag im Jahr 2013, als seine persönliche Reise mit RB Leipzig 370 Kilometer nördlich der portugiesischen Hauptstadt ihren Anfang nahm, in Barcelos, bei einem U19-Länderspiel zwischen seinem Heimatland Dänemark und Portugal, wo er dem früheren RB-Sportdirektor Ralf Rangnick so gut gefiel, dass der ihn holte - zum Entsetzen von Poulsens dänischen Landsleuten, die nicht verstehen wollten, dass er nach Leipzig in die dritte Liga ging.
Sieben Jahre später war der Dauerleipziger Poulsen als Kapitän nun nicht nur derjenige, der in Lissabon das PR-Narrativ vom organischen RB-Aufstieg am besten bediente. Er war auch derjenige, der den Stolz aufs erste Halbfinale der Klubhistorie unterstrich - und damit jenen Geist verkörperte, den Trainer Julian Nagelsmann jetzt für notwendig hält. Der Frust überwiege im Augenblick, sagte er, als er nach der Partie neben Poulsen vor einer Kamera saß und mit Journalisten auf der Tribüne per Videoschalte plauderte: "Aber ich wünsche meinen Spielern, dass wir solche Situationen wieder und wieder erleben."
Es gab im Grunde keine Facette dieses Spiels, in der PSG nicht überlegen gewesen wäre, das war auch an den Statistiken abzulesen. Bei jedem Tor der Pariser hatten die Leipziger ihren Eigenschuldanteil: Marquinhos kam beim 0:1 (13.) nach einem Freistoß von Ángel Di María im Strafraum völlig frei zum Kopfball, das 0:2 durch Di María leitete Torwart Peter Gulacsi durch einen fatalen Fehlpass ein (42.); und vor dem 0:3 ging Gulacsi erst zu zögerlich zum Ball, und dann ging Mukiele nahe der Eckfahne zu Boden, so dass wieder Di María eine präzise Flanke auf Juan Bernat schlagen konnte. Der Linksverteidiger, der früher für den FC Bayern spielte, verlängerte den Ball per Kopf ins Tor (56.). "Geschenke" nannte das Nagelsmann zurecht.
Bald ist wieder Alltag: Pokal in Nürnberg, Ligastart gegen Mainz
Aber: Im Grunde waren diese Fehler nur Symptome einer Unterlegenheit, die sich daraus erklärte, dass PSG eine kollektive Leistung mit der magischen Fantasie und dem Tempo von Kylian Mbappé, Di María und Neymar paarte. "Neben einer Topqualität, die höher war als unsere, hatten sie auch eine Top -Mentalität", sagte Nagelsmann über die Elf von Thomas Tuchel. Er war besonders davon beeindruckt, wie konsequent PSG verteidigt hatte. Auf der anderen Seite reichten nur einige der Leipziger Profis an ihre famose Leistung aus dem Viertelfinale gegen Atlético heran. Die Frage, die sich nach dem 0:3 stellte, war, ob die Partie gegen Atlético so außergewöhnlich war wie die Pluto-Saturn-Konjunktion im Steinbock - oder ob solche Leistungen künftig wieder abrufbar sein werden. Dagegen spricht, dass der eine oder andere RB-Profi gehemmt, gar eingeschüchtert wirkte, als Neymar, der zwei Mal den Pfosten traf, der zuletzt malade Mbappé und eben Di María an der Wunderlampe rieben.
"Wenn man nicht auf Toplevel kommt, ist es schwer, mitzuhalten", lautete die nüchterne Erkenntnis von Torwart Gulacsi. Nagelsmann hatte ähnliche Gedanken: "Der Gegner war heute deutlich stärker als wir und auch deutlich besser als Atlético." Scham oder Gram war damit nicht verbunden, im Gegenteil: "Ich habe keine Probleme damit, zu akzeptieren, wenn ein Gegner übermächtig war." Das war richtig und doch überraschend. Denn Nagelsmann erreicht nach Niederlagen selten einen meditativen Zustand innerer Gelassenheit.
Warum das in Lissabon so war? Weil Leipzig eine in der Entwicklung steckende Mannschaft bleibe, wie Nagelsmann betonte: "Wir werden den Weg weitergehen, auch wenn wieder mal Dellen dabei sein werden. Entwicklung ist ein Prozess, der geht nicht immer in eine Richtung. Da gibt es auch mal Steine im Weg und Hürden, über die man springen muss", sagte er. Und überhaupt: "Auf dem Weg ins Halbfinale hatten wir kein Freilos", betonte Nagelsmann. In der Tat: In den K.-o.-Runden räumte man José Mourinhos Tottenham Hotspur aus dem Weg, zudem Diego Simeones Atlético Madrid, "eine der unangenehmsten Mannschaften, die es gibt", wie Nagelsmann sagte. In der Gruppenphase überstand man jenes Olympique Lyon, das nun Juventus Turin und Manchester City aus dem Wettbewerb katapultierte. Und dennoch: Die Pleite gegen Paris hatte, gerade nach den zuletzt gehörten Hymnen, durchaus etwas Ernüchterndes.
Die Mannschaft, mahnte der Trainer, müsse den Frust im Kollektiv bewältigen - möglichst rasch. Schon in gut drei Wochen steht für RB wieder grobes Schwarzbrot auf dem Diätplan: In der ersten Runde des DFB-Pokals müssen die Leipziger beim 1. FC Nürnberg antreten (11. September); acht Tage später empfangen sie zum Bundesligaauftakt Mainz. Das sind Spiele, in denen Leipzig, anders als gegen Paris, gezwungen sein wird, zu gewinnen. Parallel dazu muss sich Nagelsmann mit den RB-Verantwortlichen um eine Baustelle namens Kaderplanung kümmern - wobei gehaushaltet werden soll und muss. Einen großen Sprung nach vorne will und kann der Klub nicht wagen. "Die beiden Stürmer von Paris (Neymar und Mbappé) kosten zusammen doppelt so viel wie unser gesamter Kader. Dieses Spiel kann uns nicht zeigen, was wir noch machen müssen auf dem Transfermarkt", betonte Nagelsmann. Etwas zeigte die Partie aber doch: Wie weit entfernt Europas Spitze für Leipzig noch ist.