Es ist nichts darüber bekannt, ob Christian Streich auf Twitter oder Instagram angemeldet ist. Wenn der Trainer des SC Freiburg Samstagnacht aber heimlich die Lage auf diesen Plattformen gecheckt haben sollte, dürfte er sehr überrascht gewesen sein, wie weit sein persönliches Empfinden von der offiziellen Social-Media-Doktrin seines Klubs entfernt war. Ein Gebrochenes-Herz-Emoji fasste die Gefühlswelt der Freiburger im Internet zusammen, und das hatte ja auch wirklich Sinn ergeben nach dem im Elfmeterschießen verlorenen DFB-Pokalfinale gegen Leipzig.
Streich wäre aber nicht Streich, wenn er nicht seine ganz eigenen Gedanken zu dieser Sache hätte. In seinen Augen hatte rein gar nichts einen Knacks oder gar einen Riss bekommen.
"Ich schaff's ned, mich zu ärgern", sagte Streich auf der Pressekonferenz nach dem Spiel: "Morge vielleicht. Aber heute schaff ich's einfach ned." In der Tat wirkte Streich nicht so, als wolle er sich noch am selben Tag über irgendetwas ärgern. Er war immer noch zu beseelt und stolz, dass er an diesem Abend dabei war, an dem der kleine SC Freiburg eine riesengroße Geschichte geschrieben hat, die mit ein bisschen Glück auch eine gigantische Geschichte hätte sein können. Und Streich gab sich auch keinerlei Mühe, seine Seligkeit und seinen Stolz zu verstecken.
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Nach dem Schlusspfiff zum Beispiel, als der Coach noch mal das gewaltige Rund des Berliner Olympiastadions absorbierte und sich in der Ostkurve bei den Freiburger Fans bedankte. Wobei, um genau zu sein: Streich verneigte sich vor der rot-weißen Menge. Ganz tief, immer und immer wieder. Dann schickte er einige Dutzend Kusshände in den Nachthimmel und schloss jeden seiner Spieler in die Arme. "Das ist ein Geben und Nehmen", sagte Streich, der in dieser Nacht definitiv in Geberlaune war: "Die ganze Karawane ist nach Berlin gezogen. Wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen." Das war vielleicht keine Analyse, für die man Innovationspreise verliehen bekommt. Mit Blick auf die Freiburger Saison war dieses Fazit allerdings auch sehr, sehr richtig.
Der SC Freiburg hat in dieser Saison noch mal an Sympathien gewonnen
Der Trainer Streich hat in den vergangenen Monaten bei jeder Gelegenheit betont, dass Erfolge in diesem hundsgemeinen Sport immer nur geliehen sind. Darüber beklagen sich die Freiburger aber nicht, weil sie diesen Sport im Großen und Ganzen wunderbar finden. Selbst dann, wenn eine produktive Spielzeit nicht mit der Champions-League-Qualifikation, sondern "nur" mit der Teilnahme an der Europa League zu Ende geht. Oder wenn man im DFB-Pokal "nur" auf dem zweiten Platz landet, obwohl man im Finale lange das bessere Team gewesen war. In Freiburg verwendet das Wörtchen "nur" ohnehin niemand, nicht mal in Anführungszeichen.
Beim Sportclub definieren sie sich über andere Dinge. Sie haben ein Betriebsklima entwickelt, in dem sie das Maximum aus ihren Möglichkeiten herausholen, und sie genießen auch ihren Status als Everybody's Darling. Und besonders sympathisch findet es das Publikum, dass die bodenständige Wertarbeit überall anzutreffen ist, in der Geschäftsstelle, aber auch auf dem Rasen. In dieser Saison haben sich deshalb noch die kältesten Herzen für die Freiburger erwärmen lassen.
Es war zwar auch am Samstag kein Spektakel, was die Streich-Elf zeigte, aber sie spielte auch keinen destruktiven Außenseiterfußball, in dem Ballbesitz als Risiko angesehen wird. Die Freiburger spielen immer irgendwas dazwischen - und sie spielen es exzellent, weil jeder Spieler weiß, was sein Kollege in wenigen Sekunden vorhaben wird. Vor allem der Defensive um den Abwehrchef Nico Schlotterbeck, der sein letztes Spiel für den SC machte, gelang es immer besser, jene Räume abzusichern, in die die pfeilschnellen RB-Angreifer so gerne hineinsprinten. Der Sportclub war wach und präsent. Und er hatte eine Menge Körper dabei.
Es war aber nicht nur die Anwendung des taktischen Know-hows, das Freiburg lange wie den Sieger aussehen ließ. Es waren auch die kleinen und unkalkulierbaren Finalmomente, die das Pendel erst auf die eigene Seite schlagen ließ, ehe dieses Pendel gemeinerweise die Richtung wechselte.
Gut lief es für die Freiburger zum Beispiel in der 19. Minute, als in der Entstehung des SC-Führungstreffers durch Maximilian Eggestein auch ein unabsichtliches Handspiel seines Teamkollegen Roland Sallai im Spiel war. Eine regelkonforme Entscheidung, die für den Zuschauer deshalb aber noch lange nicht nachvollziehbar sein muss. Die Freiburger hatten auch ein wenig Glück, als den Leipzigern kurz vor dem Ende der Verlängerung, die nach dem Ausgleich durch Christopher Nkunku (76.) aufs Programm gesetzt wurde, ein Elfmeterpfiff des fahrigen Schiedsrichters Sascha Stegemann verwehrt blieb. Der Freiburger Nicolas Höfler spielte zwar den Ball, während er den RB-Angreifer Dani Olmo im Strafraum von den Beinen grätschte. Er spielte ihn aber wirklich nur hauchzart.
Als Freiburg in Überzahl spielt, haben sie plötzlich etwas zu verlieren
Es war letztlich für beide Parteien ein klassisches Hätte-wäre-wenn-Spiel. Das Spiel hätte etwa auch ganz anders ausgehen können, wenn die Freiburger in Zentimeterfragen ein bisschen mehr Glück gehabt hätten und der Ball statt viermal gegen Latte oder Pfosten einmal mehr über die Linie gerollt wäre. Oder wenn sie ihre numerische Überlegenheit nach dem Platzverweis für den RB-Verteidiger Marcel Halstenberg besser für sich genutzt hätten, statt sie unabsichtlich zum Hemmnis umzudeuten. "Wenn man plötzlich etwas zu verlieren hat", sagte der SC-Kapitän Christian Günter, "geht vielleicht auch zu viel im Kopf vor."
Das war das Einzige, was der Trainer Streich hinterher auf seiner Mängelliste notiert hatte: Seine Spieler haben irgendwann das Denken angefangen - und jedes Nachdenken wird besonders dann zum Nachteil, wenn nach 120 gespielten Minuten der Sieger in der Elfmeter-Lotterie ermittelt werden muss. Nils Petersen traf, Günter verschoss, Keven Schlotterbeck traf. Als letzter Freiburger scheiterte Ermedin Demirovic an, na klar: der Latte. "Vielleicht sollte es einfach nicht sein", klagte Günter, der während der Siegerehrung untröstlich in den Berliner Nachthimmel schaute.
Nicht einmal der Trainer Streich wollte hernach wegdiskutieren, dass so ein Elfmeterschießen die denkbar ungerechteste Variante ist, die der Fußball kennt, um in einem Finale den Sieger zu ermitteln. Er weiß aber auch, dass diese Variante alternativlos ist, wenn sich die beiden Mannschaften in der regulären Spielzeit auf keinen Sieger einigen können. "So ist Fußball", erklärte Streich, ehe er ausführlich über diesen Sport dozierte: "Fußball ist unberechenbar. Es ist ein großes Spiel. Es ist das Spiel der Welt."
Das Husarenstück war vielleicht ausgeblieben. Streich freute sich aber noch in der Nacht darauf, in der neuen Saison wieder "alles" dafür zu tun, dass seine Freiburger in der ersten Liga bleiben. Und für die kommenden Tage versprach er sogar ein Gefühl zuzulassen, das er ansonsten eher unterbindet: Er werde traurig sein, sagte Streich - und sah dabei kein bisschen traurig aus.