Süddeutsche Zeitung

Leipzig:Auf der Baustelle

Beim 1:1 gegen Wolfsburg zeigt sich, dass die Umstellungen von Julian Nagelsmann in der Offensive zu mehr Umtriebigkeit führen, in der Defensive aber zu Anfälligkeit.

Von Saskia Aleythe, Leipzig

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Willi Orban über ein ganz neues Niveau im Leipziger Spiel philosophiert. "Julian Nagelsmann zeigt uns Möglichkeiten nach vorne und macht uns sehr variabel. Wir verbessern uns Schritt für Schritt", sagte Orban im Stile eines guten Angestellten, und tatsächlich gab es nach dem 3:0 gegen Werder Bremen Ende September gute Gründe für ein paar lobende Worte: Da hatte sich RB Leipzig an die Spitze der Bundesliga gesetzt, die erste englische Woche siegreich überstanden - und Emil Forsberg kam sogar zu dem Schluss: "Wir spielen geilen Fußball!" Nun ja, von geilem Fußball sprach am Samstagabend in der Leipziger Arena niemand mehr, Julian Nagelsmann benutzte stattdessen sehr häufig das Wort "schlampig".

Es ist ja nicht so, dass sich wegen eines 1:1 (0:0) gegen den VfL Wolfsburg gleich Stimmungstiefs in Fußballerseelen fressen; der VfL ist das einzige unbesiegte Team in der aktuellen Spielzeit, und RB hat mit 15 Punkten aus acht Spielen die Spitze noch im Blick. Aber mit dem Unentschieden manifestiert sich für die Leipziger eine Tendenz, die Nagelsmann mit einer lautstarken Kabinenansprache nach dem Spiel quittierte: Es war das vierte Pflichtspiel in Serie, das nicht mit einem Sieg endete. "Wir haben nach dem 1:0 aufgehört, Fußball zu spielen. Und wenn du das tust, bettelst du um den Ausgleich. Das ärgert mich", sagte RB-Geschäftsführer Oliver Mintzlaff, und es ärgerte ihn "extrem". Außerdem deutete ein Problem an, das die Leipziger anscheinend umtreibt: "Wir hätten uns mit einem Sieg Selbstvertrauen holen können." Mangelt es daran?

Timo Werner hinterließ in der ersten Halbzeit einen ganz anderen Eindruck, der 23-Jährige wurde im offensiven Mittelfeld von Nagelsmann variabler eingesetzt, als man es unter Rangnick kannte; Werner verteilte sogar den Ball, statt mit ihm nur auf der Außenbahn Richtung Tor zu sausen. Leipzig hatte mehr Raum als erwartet, aber nicht die klaren Chancen. Nach 54 Minuten leitete Torwart Peter Gulacsi mit einem langen Ball in die Spitze schließlich das 1:0 durch Werner ein. "Ich habe mich in den letzten Spielen vor dem Tor etwas blöd angestellt. Deshalb wollte ich heute unbedingt wieder eins machen", sagte der Nationalspieler. Interessanterweise fiel das Spiel der Leipziger danach völlig in sich zusammen. "Nach der Führung war es sehr schlecht", sagte Nagelsmann, "unglaublich passiv in beide Richtungen. Wir hatten extreme Schwierigkeiten, den Ball zu sichern und haben keine zwei Pässe in Folge mehr an den Mann gebracht." Umso sicherer wurden die Wolfsburger. Wout Weghorst überwand schließlich Abwehrrecke Dayot Upamecano und aus kurzer Distanz auch Gulacsi (82.), es war sein fünfter Saisontreffer. "Wir verlieren einfach zu viele Bälle, ohne Druck vom Gegner. Wir sind im letzten Drittel einfach zu hektisch an der Murmel", sagte Nagelsmann. Das könnte auch damit zu tun haben, dass seine eigene Spielidee derzeit womöglich manchen überfordert.

Überforderung gehört bei Nagelsmann zum Trainingsprinzip, das hatte er vor ein paar Wochen selbst berichtet; und dass er im laufenden Spiel auch ein taktischer Mitdenker ist, brachte ihm gegen den FC Bayern zuletzt viel Anerkennung ein. Da stellte Nagelsmann das System zur Halbzeit auf eine Viererkette um, aus einem 0:1 wurde ein 1:1 - ein befriedigenderes Remis als jetzt gegen Wolfsburg. Gegen Bayern waren die Glieder und Köpfe noch frisch, das wird sich mit laufender Bundesliga- und Champions-League-Saison (am Mittwoch geht es gegen Zenit St. Petersburg weiter) allerdings ändern. Welches Mittel dann das richtige bei einer jungen Mannschaft ist, muss Nagelsmann noch herausfinden. Eines konnte ihn allerdings im Vergleich zu Wolfsburg beruhigen: Der Leipziger Saisonstart war mit Spielen gegen Gladbach, Bayern und Schalke anspruchsvoller, nur gegen Schalke gab es eine Niederlage.

Im Sommer hatte der 32 Jahre alte Nagelsmann den Trainerposten von Rangnick übernommen; und wie es sich für einen hochgelobten und genauso veranlagten Trainer gehört, will man dann ja nicht nur die altbewährten Systeme weiterführen, sondern mindestens mit eigenen Noten verzieren. Das Spiel war unter Rangnick auf eine kompakte Abwehr und Umschaltmomente ausgelegt, die Leipziger galten in der Vorsaison als defensivstärkste Mannschaft der Liga. Ein Status, den Nagelsmann gerne beibehalten hätte - doch weil er auch gerne mal mit Ballbesitz liebäugelt, kommt es nun vorne zu vermehrter Umtriebigkeit, hinten aber auch zu höherer Anfälligkeit. Und Fehlern.

Nach 18 Minuten hatte Upamecano gegen Wolfsburg ohne Not eine weite Bogenlampe auf Gulacsi geschickt, der konnte nur noch mit der Hand abwehren. Es folgte ein indirekter Freistoß zehn Meter vor dem Tor, wieder rettete Gulacsi. "Wir haben Baustellen im letzten Drittel. Das hatten wir in Leverkusen und gegen Wolfsburg auch wieder extrem", sagte Nagelsmann schließlich. Und unterstrich damit, dass er sich grundsätzliche Gedanken machen muss.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4648095
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.