Mit den ganz großen Worten geht Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann durchaus sparsam um. Doch als er nach dem 2:0 gegen FK Basaksehir Istanbul noch einmal das erste Tor seiner Mannschaft vor dem inneren Auge abspulte und sich also vergegenwärtigte, wie Angeliño einen spitzen Schrei ausstieß, ins Herz des gegnerischen Strafraums sprintete, von Kevin Kampl per Lupfer bedient wurde und sich dann in einer einzigen fließenden Bewegung den Ball per Hacke zurechtlegte, sich um seinen Gegner drehte und ins Tor schoss - da fiel Nagelsmann bloß ein Wort ein: "Weltklasse." Auch das zweite Tor Angeliños, ein trockener Linksschuss nach 20 Minuten, war hübsch anzusehen.
Er sicherte nicht nur den 2:0-Sieg im ersten Gruppenspiel der Champions League. Sondern vervollständigte den Eindruck, dass Angeliño, 23, in der Form seines jungen Lebens ist. Schon in den beiden letzten Bundesligaspielen, in Augsburg und gegen Schalke, hatte er getroffen. Per Kopf. Bei einer Körpergröße von 1,71 Metern.
Von Manchester City wurde er immer wieder verliehen
Vor wenigen Jahren haderte Spanien noch, keine linken Außenverteidiger zu haben; mittlerweile ist eine solche Überproduktion zu sehen - Gayá, Jordi Alba, Reguilón und andere -, dass Angeliño zuletzt im Aufgebot von Nationaltrainer Luis Enrique nur auf Abruf dabei war. Aber es spricht sich allmählich herum, dass Leipzig einen Spieler beschäftigt, auf den Trainer Julian Nagelsmann veritable Hymnen singt. "Er verkörpert einen Typ Spieler, den ich liebe. Er ist in der Lage, ohne große Anpassungsprobleme drei, vier verschiedene Positionen zu spielen. Das gibt dem Trainer auch mal die Option, ohne Wechsel auch mal die Grundordnung anzupassen", sagt Nagelsmann nach dem Sieg gegen den letztlich harmlosen türkischen Meister.
Am Dienstagabend war das zu sehen. Erst in der zweiten Halbzeit agierte der Spanier als "Joker", wie Nagelsmann seine Außenverteidiger nennt, wenn sie verteidigen, aber aus dem Pressing heraus versuchen, in offensive Aktionen umzuschalten. In der ersten Halbzeit hatte Angeliño Außenstürmer gespielt - und getroffen. Womit José Ángel Esmorís Tasende, wie Angeliño bürgerlich heißt, schon über Plan liegt. Nagelsmann wünscht sich von seinen Außenverteidigern pro Saison "fünf, sechs, sieben Tore".
Angelino hat aktuell: vier. Die Treffsicherheit überrascht kaum einen, der mit Angeliño zusammengearbeitet hat. "Er war immer schon torgefährlich, als Junge trat er bei uns wegen seiner Schusstechnik und -kraft sogar die Freistöße", erzählt Javi Lavandeira, der Angeliño bei Deportivo La Coruña in der Jugend trainierte. Und Nagelsmann berichtet, dass Angeliño "im Training viele Dinger reinhaut, oft auch aus schwierigen Winkeln".
Dass er im ersten Halbjahr nur ein Mal traf, führt Nagelsmann darauf zurück, dass er sehr mannschaftsdienlich gespielt habe, immer einen besser postierten Nebenmann gesucht habe. Und darauf, dass Angeliño inzwischen etwas offensiver agiert, "dadurch kommt er häufiger in die torgefährlichen Räume". So wie gegen Basaksehir, Angeliños vorläufigem Meisterstück. "Nagelsmann lässt mich sehr kreativ agieren. Er schränkt mich nicht ein, sondern gibt mir Vertrauen und die Freiheit, Entscheidungen zu treffen", sagt Angeliño.
Erst seit gut einem halben Jahr spielt er in Leipzig, als Leihspieler von Manchester City, aber er fügte sich so rasch und gut in das Spiel der Nagelsmanns Mannschaft ein, dass man meinen könnte, er sei schon sehr viel länger da. Das ist umso bemerkenswerter, als Nagelsmann betont, dass die Außenverteidiger eine komplexe Rolle zu bewältigen haben. Angeliño sei wissbegierig und setze die taktischen Vorgaben gut um; er habe sich "den Spieltrieb eines Kindes" bewahrt und wolle doch "immer arbeiten", sagt der Coach - und betont, dass Angeliño unter Pep Guardiola in Manchester, "einem sehr, sehr guten Trainer", viel gelernt habe. Und in Spanien erzählt Lavandeira, dass Angeliño "schon immer so" gewesen sei. Weil: "Er sagte immer, dass er Fußballer werden wollte.
Immer. Mit einer Riesen-Überzeugung!" Angeliños Karriere ist verschlungen, und sie führt über den Atlantik. "Ich bin am Strand entdeckt worden, als ich vielleicht drei, dreieinhalb Jahre alt war. Da kamen Leute auf meine Angehörigen zu und sagten, ich sollte vielleicht in eine Fußballschule gehen." Er landete in der Escola Luis Calvo, die Deportivo La Coruña mit Talenten versorgt.
Lavandeira betreute Angeliño, als dieser 13 war - just im Jahr vor dessen Wechsel von Deportivo in die Akademie von Manchester City, und als Angeliño in aller Munde war. "Ich kann mich an ein Turnier erinnern, da waren alle großen Klubs: Barça, Espanyol, Madrid... Alle wollten Angeliño sehen. Weil er herausstach, mit allem, was ihn auch heute noch auszeichnet. Er war immer klein, aber physisch stark, mit einem starken Unterkörper. Und er legte enorme Strecken an der Außenbahn zurück, doppelt so viel wie seine Kameraden", sagt Lavandeira.
Dass er am Ende in Manchester landete, war eine Entscheidung, die der alleinerziehenden Mutter schlaflose Nächte bereitete, meint Lavandeira. Einen Buben aus einem "kleinen, bescheidenen Dorf namens Coristanco, wo jeder jeden kennt", wie Angeliño selbst sagt, drei Mal die Woche vom Deportivo-Fahrdienst abholen zu lassen, war das eine. Das andere, ihn in eine fremde spanische Stadt oder gar ins Ausland zu schicken. Am Ende entschieden sie sich für England. Wenn es mit dem Fußball nicht klappen sollte, würde er wenigstens eine neue Sprache lernen. Es klappte mit dem Fußball, es klappte mit der Sprache. Und Angeliño bereiste die halbe Welt.
Denn er wurde immer wieder verliehen: an Citys US-Filiale FC New York City, an den FC Girona und RCD Mallorca in Spanien, an NAC Breda und PSV Eindhoven in den Niederlanden, nun also an Leipzig, wo er 24 Pflichtspiele bestritten hat. Vor allem die Zeit in New York sei aufregend gewesen: "Der Klub rief an und sagte, dass es diese Option gäbe. Warum nicht, habe ich mir gesagt", sagt Angeliño, damals 18.
Dort teilte er die Kabine mit Großen der Fußballgeschichte: dem Italiener Andrea Pirlo, dem Spanier David Villa, dem Engländer Frank Lampard. "Villa hatte mir schon vor meiner Abreise nach New York geschrieben. Ich solle ganz beruhigt sein, er würde mir helfen. Ich hatte ihn quasi gerade noch bei der WM 2010 treffen gesehen. Dann habe ich es ihm auch gesagt: 'Du bist eines meiner Idole!'", erzählt Angeliño. Er habe versucht, sich Dinge abzuschauen: "Bei Lampard? Immer professionell zu sein. Bei Pirlo? Seine Ruhe mit dem Ball. Er nie nervös. Und seine Schusstechnik: Unglaublich." Gelernt habe er aber von Trainern wie Mark van Bommel in Eindhoven, Guardiola in Manchester, nun von Nagelsmann in Leipzig. Daraus nährten sie einen Spieler mit einem eigenen Stil.
"Ich bin ganz klar ein offensiver Verteidiger. Und das bin ich gern. Ich ziehe es vor, mich auf eine Sache komplett zu fokussieren und darin herausragend zu sein. Ich bin lieber der Spielertyp Marcelo als ein Durchschnitts-Spieler", sagt Angeliño, der in Leipzig sesshaft werden könnte. Bei einer bestimmten Zahl an Einsätzen greift eine Kaufoption. Zur Freude Nagelsmanns, denn er weiß: Viele gute Linksverteidiger gibt es nicht. Schon gar nicht in der Qualität Angeliños.