Leichtathletik-WM:Zahlen sind längst nicht mehr alles

Der DLV zieht eine positive WM-Bilanz: Die Funktionäre freuen sich über sportliche Erfolge, die Athleten über einen sensiblen Umgang.

Thomas Hahn

Seit seinem Einsatz bei der WM in Osaka hat der Zehnkämpfer Norman Müller eine ganz neue Einstellung zu seinem Urlaub. Bevor er nach Japan aufbrach, konnte er es kaum erwarten, dass der Urlaub begann. Jetzt, da er Japan verlässt, kann er es kaum erwarten, dass der Urlaub vorbei ist. Er will Revanche, am liebsten morgen, was allerdings nicht geht, weil nicht alle Tage eine WM stattfindet.

Leichtathletik-WM: Höhen und Tiefen: Der deutsche Auftritt in Japan.

Höhen und Tiefen: Der deutsche Auftritt in Japan.

(Foto: Foto: dpa)

Dieser Salto Nullo im Stabhochsprung hat ihm weh getan, weil er einen falschen Eindruck von seinem Vermögen bedeutete. 7344 Punkte, vorletzter Platz - das hat mit seinem Talent wenig zu tun, höchstens mit der Eigenschaft, dass er nicht zu denen gehört, die nach einer Nullrunde in der achten Disziplin aufhören. Und das fand Eike Emrich, der Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), dann doch wieder erwähnenswert: Wenn einer so was durchziehe, sagte Emrich, "dann ist das ein Zeichen von Charakter".

Zahlen sind weiterhin wichtig für den DLV, und in Osaka hat der Leitende Bundestrainer Jürgen Mallow sie mit besonderem Vergnügen vorgetragen, weil sie den Fortschritt belegen: 55 Starter haben sieben Medaillen gewonnen, zwei davon aus Gold, zwölf weitere Platzierungen unter den ersten Acht eingebracht und insgesamt 34 Plätze in den Entscheidungen. Selbst die Zahl, die Mallow nannte "für jene, die das Negative rubrizieren wollen" - die 22 Prozent Erstrunden-Ausscheider -, war eine gute Zahl; die Quote ist nicht sehr hoch.

Recht auf Kritik

Aber Zahlen sind längst nicht mehr alles in einer WM-Bilanz, das ist eines der wichtigsten Symptome des Wandels im Verband. Zufrieden zu sein, hat Tradition im DLV. Er war noch zufrieden, als es vor Jahren schon die ersten Signale des Niedergangs gab, ehe es 2004 die kapitale Niederlage bei Olympia in Athen gab mit nur zwei Silber-Medaillen.

Mittlerweile hat die Zufriedenheit eine andere Qualität. Es ist keine hohle Zufriedenheit mehr, mit der die Verantwortlichen von Schwächen ablenken, die in manchen Disziplinen offensichtlich sind. Es ist eine Zufriedenheit, die einer konstruktiven Atmosphäre erwächst, in der Athleten verdientes Lob für gute Leistungen erhalten, Anerkennung für vernünftiges Handeln und Schutz bei Niederlagen.

"Wir versuchen, die Athleten stark zu machen", sagt Mallow. "Wir nehmen die Athleten ernst", sagt Eike Emrich. Widerrede ist erlaubt, Individualismus erwünscht. Und öffentliche Tiraden bei schlechten Leistungen hat die Teamleitung abgeschafft, es gibt nur noch die Feststellung, dass es besser geht. Die Folge ist eine Harmonie, die sich mittlerweile sogar in freundlichen Worten des ewigen Lautsprechers Tim Lobinger äußert: "Es wird sensibler mit den Personen umgegangen, das hat jahrelang gefehlt."

Flugticket nicht gezahlt

So kann der junge Robert Harting, WM-Zweiter mit dem Diskus, am einen Tag den Verband kritisieren, weil er seinem Trainer das Flugticket nach Japan nicht gezahlt habe, ohne dass es gleich zum Eklat kommt. Kritik ist das Recht dessen, dem ein Verband höchste Ansprüche abverlangt, findet Emrich, also: "Wir wollen, dass Athleten widerständig sind und ihre Meinung sagen." Die Suche nach den Lösungen vollzieht sich dann im Stillen. Am Ende war Harting befriedet: "Ich glaube nicht, dass es was bringt, sich weiter darüber zu streiten."

Der Athlet, sein Selbstvertrauen und seine Gesundheit stehen im Zentrum der Verbandsstrategie, und in Osaka hat man erleben können, wie aus dieser Strategie eine neue Generation erwächst. Noch stützen die Alten das Fundament der Zukunft, Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch, 39, etwa oder die Speer-Dritte Steffi Nerius, 35.

Aber die Kinder der lebendigen Vereinslandschaft haben sich schon vorgestellt: Weitspringer Christian Reif, 22, der sich mit Bestleistung von 8,19 Meter fürs Finale qualifizierte, Speerwerferin Linda Stahl, 21, der gleiches gelang mit ihren 62,80 Meter, Zehnkämpfer Arthur Abele, 21, Neunter mit 8243 Punkten hinter dem fünftplatzierten Teamkollegen André Niklaus (8371 Punkte/persönliche Bestleistung), der Silber-Junge Harting und so weiter. Diese DLV-Mannschaft entfernt sich stetig von den Hauptfiguren einer verseuchten Vergangenheit und vermittelt gerade jenen Beobachtern ein gutes Gefühl, die noch die alten Zeiten kennen. "Bei denen", sagt der Stabhochsprung-Dritte Danny Ecker, "habe ich das Gefühl, dass die Leistungen authentischer sind."

Die Deutschen fühlen sich auf der richtigen Seite, so sehr, dass sie sich manchmal ein bisschen zu berauschen scheinen an ihrem Edelmut. Aber die Inhalte stimmen. Fast demütig richtet Emrich seinen Dank an Vereine und Trainer daheim, weil sie den Erfolg der Elite erst möglich machten. Mallow diskutiert mit Ausdauer seine Zweifel am löchrigen Antidoping-System des Weltverbandes IAAF. Und als am Freitag Bundeskanzlerin Angela Merkel die Mannschaft besuchte, versäumte es DLV-Präsident Clemens Prokop nicht, ihr seine Doping-Bedenken vorzustellen. Prompt versprach die Kanzlerin, sich für Mindeststandards bei Doping-Kontrollen in Europa einzusetzen. "Ich bin gebeten worden, dafür Sorge zu tragen und will es gerne machen", sagte sie. Damit dürfte die Rettung des Weltsports unmittelbar bevorstehen.

In alle Tiefen dieses Leistungssport-Projekts und der DLV-Moral kann vorerst keiner schauen. Es ist nur klar, dass die Arbeit daran weitergeht. "Wir sind mitten in einem Prozess", sagt Emrich. Schon stehen die nächsten Ziele bevor, Olympia in Peking, die WM 2009 in Berlin. Kein Athlet ist am Ziel. "Im Prinzip müssen sie die Zukunft schon wieder bedenken. Sie verlieren ein Stück Gegenwart", sagte Eike Emrich, "wir können ja keine Sekunde einfrieren." Er klang entschuldigend, dabei war die Nachricht doch gar nicht schlecht. Im Gegenteil, dachte Norman Müller, der gescheiterte Zehnkämpfer, und freute sich schon auf seine Revanche.

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