Leichtathletik-WM:Ungerührt durch die Todeszone

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Fast so schnell wie die Konkurrenz über 400 Meter flach: die wundersam schnelle US-Hürdensprinterin Sydney McLaughlin. (Foto: Jim Watson/AFP)

Eine fatale Tausendstelsekunde, eine Weitsprung-Kur für den Zehnkampf, ein misslungener Nachhol-Lauf für eine Gestrauchelte - und natürlich: fragwürdige Fabelzeiten auf der Laufbahn. Die bizarrsten Kurzgeschichten der WM

Von Johannes Knuth, Eugene

In dünner Luft

Das muss man Sydney McLaughlin schon lassen: Die 22-Jährige aus New Brunswick im US-Staat New Jersey war selbst unter Ausnahmekönnerinnen noch eine Ausnahme. Als 14-Jährige lief sie die 400 Meter Hürden in 55,63 Sekunden, das hätte ihr nicht nur in diesem Jahr den deutschen Meistertitel bei den Frauen beschert. Vier Jahre später war sie bei 52,75 angekommen, nur: Während viele Hochbegabte irgendwann doch auf einem Plateau stranden, kletterte McLaughlin in den Rekordlisten einfach weiter; in Regionen, die man im Bergsteigen Todeszone nennt. Vor einem Jahr, bei den US-Trials: 51,90 Sekunden, Weltrekord. Einen Monat später: 51,46 bei den Sommerspielen in Tokio. Vor drei Wochen: 51,41 bei den Trials. Und nun: 50,68, eine Zeit, mit der sie Siebte geworden wäre im WM-Finale über 400 Meter - ohne Hürden.

Es überraschte kaum, dass sich in das allgemeine Staunen nach diesem Rekordlauf im Hayward Field rasch Zweifel mischten. Sie habe früh in ihrem Leben begriffen, dass Gott sie mit einer Gabe ausgestattet habe, "die ich nur freilassen muss", konterte sie so kühl und kontrolliert, wie sie auch abseits der Bahn ist. Und was der Schöpfer nicht erledigt, lege sie in die Hände ihres Trainers: Bob Kersee, der schon tief in der Anabolika-Ära eine gewisse Florence Griffith-Joyner betreute. Deren Weltrekorde über 100 und 200 Meter stehen bis heute in der Landschaft, wie Mahnmale. Na und? "Alles ist möglich", sagte McLaughlin, als sie bestätigte, dass sie bald auf die 400 Meter umziehen könnte. Und natürlich denke man auch da an den Weltrekord. Der steht seit 1985 bei 46,70 Sekunden, von Marita Koch, tiefste DDR-Staatsdoping-Zeiten. 47,60, das wäre der Griff in den hintersten Giftschrank.

McLaughlin, auch das gehört zur ganzen Wahrheit, war in Eugene längst nicht als einzige in dünner Luft unterwegs. Noah Lyles gewann die 200 Meter in 19,31 Sekunden; Shericka Jacksons kam Griffith-Joyners Rekord über 200 Meter in 21,45 schon brenzlig nahe; die Kenianerin Faith Kipyegon gewann über 1500 Meter in 3:52,96 Minuten; und so weiter und sofort. Es fiel auf, dass vor allem die kürzeren Läufe gerade schwer im Rekordfieber sind, was an neuen Spikes mit Karbonplatten und Schaumstoffen liegen könnte, oder neuartigen Bodenbelägen, solchen Sachen.

Vielleicht ist es aber auch einfach: Glaubenssache.

Botschafter in der Sandgrube

Zehnkämpfer auf Weitsprung-Kur: Simon Ehammer stärkt sein Selbstvertrauen - in Eugene trat er ausschließlich in seiner Fabeldisziplin an - und gewann Bronze. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Kleine Knobelaufgabe für Statistiker: Welcher Zehnkämpfer hat bei Weltmeisterschaften schon mal eine Medaille bei den Spezialisten abgestaubt? Das Los der Mehrkämpfer besteht ja darin, dass sie sich ihre Exzellenz über zwei Tage erarbeiten, wie ein Mosaik, das sie nach und nach zusammensetzen. Das geht im Rekordfeuerwerk der Einzelkönner nur oft unter. Und die Bronzemedaille, die der Schweizer Simon Ehammer in Eugene im Weitsprung gewann, mit 8,16 Metern? War nach vorläufigen Hochrechnungen tatsächlich eine Weltpremiere.

Ehammer ist auch im Mehrkampf eine Erscheinung, der 22-Jährige hat seine Schwächen (Diskus, 1500 Meter), seine Trainer stärken aber lieber seine Stärken. Über 110 m Hürden (Bestzeit 13,48 Sekunden) könnte er auch im Einzel bei Europameisterschaften starten; die 8,45 im Weitsprung, die er zuletzt in Götzis in die Grube setzte, sind Landesrekord. Damals schaffte Ehammer 8377 Punkte, obwohl er sich ein wenig krank fühlte. Langfristig traue er sich 9000 Zähler zu, hat er einmal gesagt. Sein Ehrgeiz, heute eine Stärke, hatte ihn lange daran gehindert, sein ganzes Können freizuschaufeln; mäßige Leistungen ließen ihn oft wild werden, keine gute Eigenschaft im zähen Mehrkampfgeschäft. Vor zwei Jahren zogen seine Trainer ihn zum Weitsprung ab, und es war just dieser Umweg, der Ehammer nun für den Mehrkampf wieder einen klareren Kopf verschaffte. Bei der EM in München, die nur drei Wochen nach dem Zehnkampf in Eugene anbricht, wird er wieder in seinem Hauptberuf antreten. In Eugene sagte er, er sei auch deshalb im Weitsprung gestartet, um für die Klasse der Mehrkämpfer zu werben.

Das Glück liegt auf der Straße

Gold über 10.000 Meter: Joshua Cheptegui (rechts) holt sich den Lohn für eine schwere Vorbereitung. (Foto: Wang Ying/Imago)

Meisterschaften werden selten im Rennen entschieden, die meiste Arbeit muss in den Monaten zuvor erledigt werden, im Training. Der Anlauf, den Afrikas erfolgsverwöhnte Langstreckenläufer auf Eugene nahmen, war insofern noch länger: Ihre Länder waren in der Pandemie besonders hart getroffen, die Grenzen blieben dicht, viele Läufer konnten ihre Familien nicht mit Einsätzen im Ausland ernähren. Selbst Ugandas Olympiasieger und Weltrekordhalter Joshua Cheptegei hatte Zeit, bei Malerarbeiten im Haushalt zu helfen. Andererseits: Finanziell musste sich Cheptegei schon damals nicht grämen. Und in Eugene zeigten sich Äthiopier, Kenianer und auch Cheptegei bestens erholt, bis auf die 1500 Meter der Männer hatten sie die Langstrecken fest im Griff.

Cheptegeis Trainer Addy Ruiter sagte in Eugene, dass ihnen die Pandemie letztlich sogar geholfen habe: Ruiter blieb, statt in die Heimat in den Niederlanden zu reisen, fast neun Monate bei Cheptegei, als die Grenzen geschlossen waren. Die Zeit in der Einöde bei Kapchorwa, auf 2000 Metern und mit einer ruckeligen Gras-Laufbahn, sei zäh gewesen, habe das Team aber näher zusammenrücken lassen. In Eugene gewann Cheptegei die 10 000 Meter mit einem eindrucksvollen Sprint, in der Nacht zum Montag jagte er dem Titel über 5000 Meter hinterher. Bis zu den Sommerspielen 2024 werde sein Schützling hauptberuflich auf der Bahn sein, sagte Ruiter, danach wolle er zum Marathon wechseln. "Er kann einen Stadtmarathon definitiv unter zwei Stunden laufen", sagte Ruiter, er meinte: ohne eine Armada an Tempomachern wie der Kenianer Eliud Kipchoge 2019 in Wien. Alles eine Frage der Disziplin, findet Ruiter.

Und des Glaubens vermutlich.

Zu schnell fürs Regelheft

Eine Tausendstelsekunde zu früh: Nach seinem Start wird US Sprinter Devon Allen (rechts) disqualifiziert. (Foto: Lucy Nicholson/Reuters)

Bei all dem Erfolg der US-Athleten in Eugene - 28 Medaillen, darunter zehn goldene, waren es bis zum vorletzten Tag - blieb eine Geschichte, die US-Athleten wie Beobachter fast noch mehr umtrieb, sie handelte von einem Geschlagenen. Hürdensprinter Devon Allen, in New York zuletzt in 12,84 Sekunden drittschnellster Hürdensprinter der Geschichte, war nach einem Fehlstart disqualifiziert worden. Er hatte sich 0,099 Sekunden nach dem Schuss aus dem Block gelöst, so hatte es der Sensor zumindest angezeigt. Doch das Regelheft diktiert, dass der Schall von der Pistole bis zu den Läufern mindestens 0,1 Sekunden (oder 100 Millisekunden) benötigt, Allen hatte sich also eine Tausendstelsekunde zu früh abgedrückt. Mehre Experten wiesen rasch darauf hin, dass die 100-Millisekunden-Grenze "willkürlich" sei und längst überholt gehöre: Eine Studie hatte schon 2009 nahegelegt, dass manche Menschen nach 80 Millisekunden auf ein Signal reagieren. Der Initiator der Feldforschung war der Leichtathletik-Weltverband.

Gut möglich, dass die 100-Millisekunden-Grenze bald fällt. Die umstrittene Regel zerstörte in Eugene jedenfalls eine der wenigen Geschichten, die diese WM in größeren US-Medien über die Wahrnehmungsschwelle gehievt hätte. Allen hatte zuletzt einen Vertrag bei den Philadelphia Eagles unterzeichnet; ein Hürden-Weltmeister, der in die größte Football-Liga der Welt umzieht (und seinem alten Sport trotzdem treu bleiben will), das hätte sogar in der Sommerpause der US-Sportligen etwas hergemacht. Allen selbst gab sich, nachdem die erste Wut verdampft war, gefasst: "Das nächste Mal", sagte er, "reagiere ich einfach langsamer."

Doppelt bitter

Pech auch im exklusiven Nachholversuch: Hürdensprinterin Anne Zagre (Belgien) stürzt. Im eigentlichen Rennen hatte sie eine Gegnerin ins Straucheln grebracht. (Foto: Ashley Landis/AP)

Ein Auftritt im Hayward Field ist selbst für hauptberufliche Leichtathleten ein Schmankerl. Längst nicht alle haben die Gelegenheit, beim jährlichen Stopp der Diamond League hier vorbeizuschauen. Die Belgierin Anne Zagré durfte sich also auch in dieser Hinsicht glücklich schätzen. Sie war im Vorlauf über 100 Hürden ins Straucheln gekommen, weil die Amerikanerin Nia Ali, die Titelverteidigerin aus den USA, gestürzt war. Zagré protestierte, durfte am Nachmittag noch mal laufen, alleine. Die Organisatoren bestückten die Bahnen links und rechts von ihr ebenfalls mit Hürden, damit sich der Lauf nicht ganz so einsam anfühlte. Dafür hatte Zagré alle Zuschauer auf ihrer Seite. Sie begann stark, bis zur letzten Hürde sah es so aus, als könnte sie tatsächlich ins Halbfinale rücken. Dann touchierte ihr Nachziehbein die Hürde, Zagré stürzte, kullerte ins Ziel. Das erinnerte auch daran, wie brutal ein Sport sein kann, in dem sich die Arbeit von Jahren binnen 13 Sekunden entlädt - oder in rund 26.

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