Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik-WM:Mehr Stolz als Recht

China ist seit Olympia 2008 nicht freier geworden - nun kommt wieder eine Veranstaltung nach Peking.

Von Kai Strittmatter, Peking

Die Welt trifft sich mal wieder in Peking. Vom Samstag kommender Woche an richtet die Stadt die Leichtathletik-WM aus. Zum ersten Mal seit den Olympischen Sommerspielen von 2008 werden sich dann aller Augen erneut auf das "Vogelnest" richten, das Olympiastadion, in dem der Regisseur Zhang Yimou damals zur Eröffnungsfeier die größte Materialschlacht verantworten durfte, die Olympia je gesehen hatte. Die schnellsten Frauen und Männer der Welt werden wieder antreten in jenem Stadion, in dem der Sprinter Usain Bolt 2008 seine Wunder-Weltrekorde lief. Das Vogelnest ist längst zu einem der Wahrzeichen Pekings geworden.

Was ist den Chinesen geblieben von 2008? Von all der Gigantomanie, aber auch von all den schönen Versprechen? Da ist der Stolz, dem wird man immer wieder begegnen: Stolz auf die architektonischen Glanzlichter, der bei vielen Menschen, gerade in der Hauptstadt, nahtlos in patriotischen Stolz übergeht. "Das Vogelnest ist ein Symbol für den Aufstieg der Nation" verkündet die Stadion-PR den Besuchern, und kaum einer hier wird dem widersprechen. Insofern ist die Rechnung der Partei aufgegangen. Der Stadt sind von dem irrsinnigen Bauboom schmerzhafte Narben geblieben, aber auch segensreiche Infrastrukturmaßnahmen: Der größte Teil der einmaligen Altstadt wurde im Namen Olympias der Immobilienspekulation geopfert, gleichzeitig bescherten die Investitionen der Stadt ein U-Bahnnetz: Einst fuhren nur zwei Linien, heute sind es 18.

Pekings Olympiastadion sollte "Begegnung und Reibung" zulassen, steht aber häufig leer

Und all die großen Versprechen auf mehr Offenheit? "Komplette Pressefreiheit" für ausländische Medien, hatten KP-Funktionäre einst angekündigt. Ein unzensiertes Internet. Saubere Luft. Und natürlich "die Verbesserung der Menschenrechte". Und auch das IOC sang das Lied Pekings. China gebe sich "große Mühe" bei den Menschenrechten, sagte Jacques Rogge vor Beginn der Spiele 2008. Mittlerweile muss man sagen: Bei jedem einzelnen dieser Punkte steht China heute schlechter da als damals. Selbst der Smog ist heute schlimmer. Hier immerhin hat die Regierung Abhilfe versprochen. Bei den Bürgerrechten ist mit Besserung erst mal nicht zu rechnen, im Gegenteil. 2008 stand China auf dem wenig ruhmreichen Platz 167 auf dem "Index der Pressefreiheit" von "Reporter ohne Grenzen". Im letzten Jahr war es auf Platz 175 abgerutscht. Die Zensur ist noch repressiver, Internet und soziale Medien sind unter KP-Chef Xi Jinping noch unfreier. Jene zarten Keime von Zivilgesellschaft, die damals zu sprießen begannen, werden von den Sicherheitsbehörden im Moment systematisch zertreten. In den letzten vier Wochen erst verhörten, verschleppten und verhafteten sie mehr als 260 Rechtsanwälte.

Die wachsende Zensur in Netz und Medien, die Re-Ideologisierung an Universitäten und Think-Tanks hat dazu geführt, dass kritische Stimmen in China inzwischen noch seltener zu hören sind. Und doch finden sie sich ab und an. Das Wirtschaftsmagazin Caixin veröffentlichte soeben einen Kommentar, der anmahnte, es genüge nicht, wenn solche Spiele einen "stolz machen" - in Zukunft wünschten sich die Bürger Wettkämpfe, die "dem Land echten Nutzen" brächten. Die Propagandajagd nach Goldmedaillen "um jeden Preis" sei ein Relikt der Vergangenheit. Vor allem wenn sie einhergehe mit "gigantischen Bauprojekten", die nichts anderes seien als "Denkmäler der Eitelkeit" für die Regierenden. Das war - eingehüllt in ein paar schmeichelnde Worte - für chinesische Verhältnisse schon harter Tobak, und es war sicher kein Zufall, dass das Stück erschien in den Tagen zwischen dem Zuschlag für die Winterspiele 2022 und der Leichtathletik-WM: eine Mahnung.

Die These, die Investitionen von 40 Milliarden US-Dollar könnten sich am Ende nicht ausgezahlt haben, wird man in Chinas Presse nicht finden. Auch ein Experte wie der Pekinger Sportökonom Lin Xianping, der sich kluge Gedanken gemacht hat über eine mögliche Nutzung der leer stehenden Stadien, wird bei Nachfragen der SZ am Telefon schnell wortkarg und legt dann auf: Wir hatten wissen wollen, woran es liegt, dass ein so großer Teil des baulichen Erbes von 2008 vor sich hin gammelt und die Staatskasse belastet. Von "weißen Elefanten", Investitionsruinen, sprach die Zeitung China Daily schon vor ein paar Jahren. Am offensichtlichsten galt das für Stätten wie das Baseball-Stadion, das Velodrom oder die Ruder- und Kanu-Anlage, wo schon 2012 Gestrüpp wuchs und sich Risse durch den Beton zogen. Das einzig wirklich gut genutzte der Stadien ist heute wohl das Wukesong- Stadion, in dem 2008 die Basketballer antraten. Es benannte sich 2011 um in "Mastercard-Zentrum" und kassiert seither bei Sponsoren ebenso ab wie bei Konzerten; auch Beyoncé trat hier schon auf. Auch die Manager des "Wasserwürfels", des auffälligen Schwimmstadions, suchen kreativ nach Einnahmequellen: Sie betreiben hier seit 2010 nicht bloß ein Spaßbad, sie verkaufen sich als Marke auch an Schnaps- und Mineralwasserhersteller. Und trotzdem braucht der Ort jedes Jahr einen Millionenzuschuss von der Regierung.

Und das einst 325 Millionen Euro teure Vogelnest? "Es wird bei seinem Aufstieg zu Ruhm und Ehre in die Spuren des Vaterlandes treten", heißt es in der Audio-Tour im Stadion. Nun, von der Vision der Schweizer Architekten Herzog und DeMeuron, die der Stadt Peking einen "neuartigen öffentlichen Raum", einen Ort "für Begegnungen und Reibungen" schenken wollten, ist nicht viel geblieben. Das Stadion empfängt Touristen, aber die meiste Zeit steht es leer. 100 Großveranstaltungen mit jeweils mehr als zehntausend Teilnehmern habe das Stadion von 2008 bis Ende 2014 durchgeführt, heißt es. Mal abgesehen davon, dass in das Stadion 91 000 Menschen passen: Hundert große Events in fast sieben Jahren, das ist nicht viel - das kleinere Wukesong-Stadion kam auf 70 allein im letzten Jahr. Pekings Guo'an-Fußballklub lehnt es jedenfalls ab, das Stadion zu seiner Heimat zu machen, ohne öffentlich Gründe zu nennen: "zu teuer", schrieb das Portal ifeng.com. Ein Baseball-Wettkampf für Jugendliche im Mai, nationale Leichtathletik-Wettkämpfe im Juni, ein Gastspiel des FC Bayern im Juli, das waren zuletzt die Höhepunkte.

Die Betreiber werden dem IOC auf Knien dafür gedankt haben, dass Peking 2022 nun die Winterspiele ausrichten darf: Das Vogelnest wird das erste Olympiastadion, dem eine Wiedergeburt geschenkt wird. Wenn auch nur eine kurze: Sie werden dort wieder die Spiele eröffnen. In der Bewerbung Pekings für 2022 war das ein wichtiger Beleg für die "Nachhaltigkeit" der Spiele in China.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2015
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