Leichtathletik-WM: Jelena Issinbajewa:Das Inferno danach

"Jelena, Jelena, was ist passiert?" Die Russin Issinbajewa hat keinen gültigen Versuch, kämpft danach aber bis zur Erschöpfung - und bleibt im bittersten Moment ihrer Karriere stets freundlich.

Thomas Hummel, Berlin

Veronica Campbell-Brown hatte die 100 Meter gerade in weniger als elf Sekunden geschafft - aber hier schien sie nicht vorbei zu kommen. Der Gang, durch den die Jamaikanerin gehen musste, war versperrt durch 20, 25 gestreckte Arme und Hände, die alle ein kleines Aufnahmegerät nach vorne hielten. Mikrofone an Stangen schwebten darüber, Kameraobjektive drückten in den Pulk. Eine schier unüberwindliche Barriere für die viertschnellste Frau der Welt, kein Arm zuckte zurück. Denn hier ging es um Wichtigeres. Es ging um das vielleicht größte Scheitern bei diesen Leichtathletik-Weltmeisterschaften.

Jelena Issinbajewa

Jelena Issinbajewa während des Wettkampfs.

(Foto: Foto: AFP)

Nur ein paar Zentimeter vor dem Strauß aus Aufnahmegeräten und Mikrofonen hielt Jelena Issinbajewa selbst einen Sprechapparat in der Hand, in das sie mit äußerst freundlicher Mimik und sich bisweilen überschlagender Stimme russische Sätze aneinander reihte. Eine Helferin hatte ihr das Mikrofon gegeben, damit sie im vielleicht schlimmsten Moment ihrer Karriere ihre Erklärungsversuche wenigstens nicht schreien musste.

Jelena Issinbajewa, die russische Königin des Frauen-Stabhochsprungs, zweimalige Olympiasiegerin, zweimalige Weltmeisterin, Europameisterin, Weltrekord-Halterin, hatte in Berlin keinen gültigen Versuch. Sie scheiterte im ersten Sprung über 4,75 Meter. Da die Polin Anna Rogowska diese Höhe im ersten Versuch schaffte, ließ sie gleich auf 4,85 erhöhen. Denn eines wollte sie auf keinen Fall: Zweite werden. Dann lieber ganz raus. Lieber einen Salto Nullo, wie das im Stabhochsprung heißt.

So kam es dann auch. Zweimal riss die Russin noch die Latte, dann kniete sie auf der Matte und verhüllte ihr Gesicht mit den vom Klebematerial schwarzen Händen. Vielleicht ahnte sie da bereits, welches Inferno nun auf sie wartete.

Während die beiden Polinnen (Gold für Rogowska, 4,75 Meter, Silber für Monika Pyrek, 4,65) und die Amerikanerin (Silber mit gleicher Höhe für Chelsea Johnson) ihre Medaillen feierten, während die Deutsche Silke Spiegelburg über ihre verpasste Chance als Vierte mit 4,65 Meter weinte, hetzten die Fotografen hinter Issinbajewa her. Doch die Russin flüchtete keineswegs. Ganz im Gegenteil stellte sie sich jeder Linse und jedem Fragesteller, der ihr in den Weg trat. Und da standen viele, sehr viele. Bis zum Stadionausgang sollte Issinbajewa in dieser Nacht sicherlich noch 50, vielleicht 100 Mal Auskunft gegeben.

Vor jeder Kamera blieb Issinbajewa stehen, sprach stets freundlich, blickte unter ihrer tiefen Baseball-Mütze hervor, hob entschuldigend die Schultern, zeigte ihre Handflächen, als wollte sie sagen: Seht her, ich bin ein Mensch. Sie lächelte oft. Den Kameras im Stadion folgten Kameras im Untergeschoss des Olympiastadions, dann müssen die Sportler durch die so genannte Mixed Zone, wo die schreibenden Reporter aus aller Welt warten. Issinbajewa schien schon erschöpft zu sein, der Wettkampf war nun schon mehr als eine Stunde her, als sie hereintrat. Sie pustete einmal tief durch - und machte weiter.

Jelena, Jelena, was ist passiert? "Ich habe keine spezielle Begründung für das. Ja, ich war am Knie verletzt, aber das hat mich heute nicht behindert. Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Das ist Sport!" Sie sagte das immer und immer wieder. Manchmal leicht abgewandelt, auf Nachfrage plauderte sie weiter. Sie lächelte dabei, zog die Schultern entschuldigend nach oben. Fertig? Gut. Sie nahm ihre Sporttasche, ging ein, zwei Schritte. Jelena, Jelena, please, was ist passiert? Issinbajewa stellte die Sporttasche wieder ab.

Der Gang durch die Mixed Zone ist geschwungen, sodass möglichst viele Reporter an der Brüstung stehen und die Athleten abfangen können. Alle warteten auf den russischen Star. Jelena, Jelena, please, was ist passiert? Jeder bekam seine Minuten, jedem blickte sie beim Sprechen in die Augen, jeder bekam seine Antworten. Wären hier alle 30.500 Zuschauer an der Brüstung gelehnt, Jelena Issinbajewa hätte wohl mit jedem gesprochen. So lange, bis sie zusammengebrochen wäre. Es war bewundernswert.

Dabei fand sie bisweilen durchaus schöne Erklärungen. "Vielleicht war es Zeit zu verlieren, vielleicht wollte Gott mir damit etwas sagen. Ich muss allerdings noch herausfinden, was", philosophierte sie einmal. Dann reichte ihr eine Bekannte einen Zettel, Issinbajewa las ihn und lachte dankend. Ein afrikanischer Journalist reichte ihr die Hand, die Russin nahm auch diese und schüttelte sie ein wenig. Es folgte die sehr blonde russische Pressesprecherin, die ihr den Unterarm hielt und gut zuredete. Issinbajewa schlug die Augen nieder und nickte.

2013 in Moskau

Die russischen Reporter bekamen fast eine Privataudienz, als Issinbajewa das Mikrofon bekam, um für alle verständlich zu antworten. Einblicke in ihr Privatleben inklusive: Sie sei eben nun 27 Jahre, habe einen Freund, den sie heiraten wolle und habe wohl das Training etwas vernachlässigt. Was sich auch in der für sie dürftigen Weltjahresbestleistung von 4,85 Meter niedergeschlagen hatte.

Aber diese Niederlage sei ihr eine Lehre, sie wolle sich die nächsten vier, fünf Jahre wieder voll auf die Leichtathletik konzentrieren. "Ich weiß, wie sehr die russischen Landsleute an mich glauben und ich liebe es, für mein Land zu starten und Erfolge zu feiern", erklärte sie. 2013 sind die Weltmeisterschaften in Moskau, bis dahin ist auch ihr millionenschwerer Ausrüstervertrag datiert.

Veronica Campbell-Brown übrigens kam dann doch noch vorbei an den Armen und Mikrofonen. Wie ihre 100-Meter-Endlauf-Kolleginnen Allen Bailey, Debbie Ferguson-McKenzie und Lauryn Williams tauchte sie flinken Schrittes unten hindurch. Ohne, das Issinbajewa oder ein Reporter davon Notiz genommen hätten.

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