Leichtathletik-WM in Berlin:Zu langsam für die Konkurrenz

Speerwerferin Steffi Nerius erklärt sich ihre völlig unerwartete Goldmedaille auch mit ihrem gemächlichen Anlauf - und hält an ihren Rücktrittsplänen fest.

T. Hummel

Die Modemacher in Deutschland werden in den kommenden Tagen vielleicht registrieren müssen, was sich da im Berliner Olympiastadion zusammenbraute. Wenn mal nicht das alte Stirnband, in den frühen achtziger Jahren sogar Diskotheken-geeignet, eine unverhoffte Renaissance feiert! Am späten Dienstagabend liefen bereits zahlreiche Menschen mit einem Stoffband am Kopf durch den "WM-Club" des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) in Berlin Mitte. Und da hielten sich durchaus Personen und Persönlichkeiten auf, die so einen Trend öffentlichkeitswirksam nach außen tragen könnten. Zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Leichtathletik-WM in Berlin: In den Armen der Kanzlerin: Angela Merkel gratuliert Steffi Nerius zum ersten deutschen Sieg bei dieser WM.

In den Armen der Kanzlerin: Angela Merkel gratuliert Steffi Nerius zum ersten deutschen Sieg bei dieser WM.

(Foto: Foto: AP)

Der Grund für die zahlreichen Stirnbandträger war allerdings nicht etwa eine neue Gesundheitsreform, sondern Steffi Nerius aus Leverkusen, die seit vielen Jahren die Speere mit einem Stirnband am Kopf durch die Stadien wirft. Und seit ein paar Stunden Weltmeisterin 2009 war. Auf einigen Bändern stand "Danke Steffi" zu lesen, wobei verblüffte, woher diese Aufschritt so schnell kam. Denn wer ernsthaft auf eine Weltmeisterin Steffi Nerius gesetzt hatte, sollte künftig in Wettbüros auf Sportergebnisse tippen. Er würde reich werden.

Steffi Nerius trägt nun im Alter von 37 Jahren den Zusatz Weltmeisterin, was Nerius an diesem Abend noch nicht ganz begreifen konnte. "Das ist der schönste und größte Moment in meinem Leben. Aber ich bin noch ein bisschen im Schockzustand", sagte sie eine halbe Stunde nach dem Wettkampf. Damit habe sie im Leben nicht gerechnet. "Als Barbora Spotakova den letzten Versuch hatte und der Speer die Hand verließ, war klar: Das werden keine 67 Meter. Da kam alles in mir raus, die Tränen, die Gefühle", beschrieb sie den Siegesmoment.

Ihr Trainer Helge Zöllkau hatte ihr geraten, den ersten Versuch "ruhig, gelassen und schön" zu werfen, also ging die erfahrene Athletin hin, warf ruhig, gelassen, schön - und weiter als bisher in dieser Saison. Bei 67,30 Meter kam der Speer runter, Nerius freute sich darüber so sehr, dass sie im Jubel schon fast eine Ehrenrunde ansteuerte. Doch WM-Gold mit 67,30 Meter? "Mit einer Medaille hatte ich da gerechnet", erzählte Zöllkau, aber nicht mit Platz eins.

"Ich dachte: Ich lauf doch"

70 Meter müsse man wohl werfen, hieß es vorher allenthalben, es waren ja auch einige Sportlerinnen dabei, die dies schaffen sollten. Weltrekord-Halterin Barbora Spotakova aus Tschechien, die Russin Maria Abakumova, die im Vorkampf mit der Weltjahresbestweite von 68,92 Meter beeindruckt hatte. Oder Christina Obergföll aus Offenburg. Die 27-Jährige steckt allerdings seit einigen Wochen in der Formkrise und kämpfte in Berlin mit ihrer Technik und den eigenen Zweifeln.

Nach Platz fünf mit 64,34 Meter wischte sie sich die Tränen der Enttäuschung aus dem Gesicht. Es habe einfach nicht gepasst, erzählte Obergföll, ihr Trainer habe ihr zugerufen: "'Lauf zu, lauf zu!' - aber ich dachte: Ich lauf doch." Obergföll hatte wie die anderen Favoritinnen mit der weichen Anlaufbahn zu kämpfen. Spotakova erklärte, sie sei technisch nicht zurecht gekommen, weil sie den Speer immer zu früh wegwarf. Die Tschechin als Zweite enttäuschte mit ihrer Weite von 66,42 Metern genauso wie Abakumova als Dritte mit 66,06.

Für Steffi Nerius stellte der Boden indes kein Problem dar. "Ich bin eine langsame Anläuferin", erklärte sie. Was sie nicht sagte: Sie ist technisch die vielleicht beste Speerwerferin im Feld gewesen mit viel Gefühl für den Abwurf. Die anderen hingegen leben von einem schnellen Anlauf und einem enormen Stemmschritt, mit dem sie die Katapultwirkung auf den Speer erhöhen. Doch keine Werferin schaffte es, wenigstens einen Wurf durchzubringen.

Dazu litten die Athletinnen unter einem sehr unruhigen Verlauf. Immer wieder unterbrachen die Schiedsrichter, weil auf der Bahn gelaufen wurde oder gegenüber auf dem Hochstand eine Siegerehrung stattfand. "Der Wettkampf hatte eigentlich gut begonnen, wurde dann aber durch die vielen Pause kaputt gemacht", beschwerte sich Nerius. Dabei profitierte sie am meisten davon, die Konkurrenz warf vergeblich ihrem ersten Versuch hinterher.

Einige wollten die neue Weltmeisterin noch am Abend dazu bewegen, doch ihren Rücktritt zu überdenken. Doch die 37-Jährige lehnte ab: "Ich hatte die schönste Saison in meinem Leben, da sollte man aufhören." Die neue Weltmeisterin wird noch drei Wettkämpfe bestreiten, den letzten am 13. September in Thessaloniki. Danach habe sie ein paar Wochen Urlaub, um von 1. Oktober an 40 Stunden in der Woche zu arbeiten. Als Trainerin behinderter Sportler bei Bayer Leverkusen. "Ich hoffe, ich kann den Athleten das weitergeben, was ich jahrelang von Trainern mitbekommen habe", blickte Nerius voraus. Einer Weltmeisterin werden die Athleten zumindest artig zuhören.

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