Leichtathletik-WM in Berlin:Deutlich leere Ränge

Offiziell ist das Stadion ausverkauft: Den leeren Rängen im Olympiastadion setzen die Organisatoren Rechenspiele und geheimen Gratisaktionen entgegen.

Claudio Catuogno, Berlin

Noch am Abend des 100-Meter-Finales der Männer, exakt um 22:29 Uhr, kam die Botschaft via Presseverteiler: "74.413 Besucher am Sonntag im Olympiastadion Berlin". 74.413 - was für eine stolze Zahl. Besonders stolz sogar, wenn man bedenkt, dass bei den Fußballspielen des Hauptstadtklubs Hertha BSC (von denen selten 3500 Pressevertreter aus aller Welt mit eigenem Pult auf den Rängen berichten) nur 74.244 Menschen hineinpassen ins Olympiastadion.

Leichtathletik-WM in Berlin: Ein volles Stadion sieht anders aus: Das Berliner Olympiastadion bei einer Morgenveranstaltung.

Ein volles Stadion sieht anders aus: Das Berliner Olympiastadion bei einer Morgenveranstaltung.

(Foto: Foto: Reuters)

Und besonders stolz auch, wenn man sich die vielen leeren Sitzreihen in Erinnerung ruft, die am Sonntagabend wieder auf den Tribünen zu sehen waren, trotz des Rekordrennens Bolt gegen Gay gegen Powell. Womöglich also: zu stolz um wahr zu sein? Die Presseerklärung des Berliner WM-Organisationskomitees (BOC) erklärt die irritierende Rechnung dann im Fließtext: "Die Morgenveranstaltung besuchten 23300 Zuschauer, die Nachmittagsveranstaltung 51.113."

Es gehört offenbar dazu, dass man bei einem Weltereignis wie der Leichtathletik-WM, immerhin dem größten Sportevent des Jahres, kaum noch zwischen Schein und Sein unterscheiden kann, und das nicht nur beim Millionengeschäft mit Zeiten und Weiten. Sondern auch beim Geschäft der Vermarkter. Ein "an neun Tagen ausverkauftes Olympiastadion" war seit Monaten als Ziel ausgegeben worden vom BOC und dem zuständigen Marketing-Fachmann Michael Mronz, das wären neun Mal 60.000 abgesetzte Eintrittskarten gewesen.

Dass dieses Ziel deutlich verfehlt wird, erfährt man nun aber allenfalls in Zwischentönen, etwa wenn Mronz einräumt, "Montag, Dienstag und Mittwoch" würden "jetzt noch mal hart" - ab Donnerstag sei der Ticketverkauf dann aber "ein Selbstläufer". Offiziell verkündet werden hingegen Zahlen, die wie Superlative klingen. Auch die "67.846 Besucher" vom Eröffnungstag, zustande gekommen aus der Addition der 25.300 Zuschauer am Vormittag und der 42.546 am Abend.

Michael Mronz sagt zu den Rechenübungen: "Das ist üblich. Der Weltverband IAAF will von uns ja vergleichbare Zahlen." Und tatsächlich: Auch der Publikumszuspruch bei den vorangegangenen Weltmeisterschaften, etwa 2007 in Osaka, 2005 in Helsinki und 2003 in Paris, wurde auf diese Weise ermittelt: Vormittags-Besucher plus Abend-Besucher gleich Zuschauerzahl. Mit dem Unterschied allerdings, dass in Berlin für die bisherigen Wettkampftage nur Ganztages-Tickets ausgegeben wurden, Vormittags- und Nachmittagsbesucher also identisch gewesen sein müssen.

Vor diesem Hintergrund grenzt eine Zahl von über 74.000 "Besuchern" schon an ein Vertuschungsmanöver: In Wahrheit waren von den gezählten 51.113 Zuschauern am Sonntag schlicht 23300 auch morgens schon da - und wurden zum Dank gleich mal doppelt gezählt. Der Rest hat sich die Vor- und Zwischenkämpfe geschenkt. Doch auch Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), will die kommunizierten Zahlen nicht als Desinformation der Öffentlichkeit bezeichnen. Sondern als "Formalien" - die IAAF "zählt eben so".

Überdies legt Prokop Wert darauf, "dass wir bisher mit der Stimmung im Stadion voll zufrieden sind", trotz der enttäuschten Erwartungen beim Ticketverkauf, und trotz einiger leerer Flächen, die womöglich in den Fernsehübertragungen keinen guten Eindruck machten. Die wirtschaftlichen Vorgaben des BOC würden auch bei einer Auslastung wie am Sonntag erreicht. Und was "die atmosphärische Komponente" betrifft, berichtet Prokop, würden sich nicht nur die Athleten, sondern auch die Funktionäre der IAAF und des Olympia-Zirkels IOC ihm gegenüber "durchweg begeistert über das Publikum äußern". Das Stadion sei zwar nicht voll - "aber doch voll genug für große Emotionen".

Doch um welchen Preis? Zumindest um jenen, dass sich die Verantwortlichen winden müssen, um formal zwar die Wahrheit zu sagen ("wir verschenken oder verramschen keine Karten"), das gesamte Ausmaß der Schwierigkeiten aber dennoch zu vertuschen. Jedenfalls kursieren in Berlin längst zahlreiche Geschichten von erbosten Ticketkäufern, die während der Wettkämpfe feststellen, dass ihre Sitznachbarn für Plätze der gleichen Kategorie nicht annähernd das Gleiche bezahlt haben.

Weil etwa der WM-Sponsor Deutsche Post unter dem Brandenburger Tor gleich zwei Karten zum Preis von fünf Euro abgab, die als Spende an die Aktion "Ein Herz für Kinder" gehen. Und das nicht etwa nur für traditionell verkaufsschwache Tage, wie der BOC-Geschäftsführer Frank Hensel in der Berliner Zeitung versicherte. Sondern für den Sonntag - also das 100-Meter-Finale der Männer. Am Samstag wiederum konnte ein Fiasko offenbar nur vermieden werden, weil ein Unternehmen, das als WM-Partner nicht in Erscheinung tritt, tausende Menschen mit Bussen in die Hauptstadt karrte - offenbar nicht ohne sanften Druck aus der Politik.

Wenn selbst ein Ereignis wie das groß angekündigte Duell Bolt gegen Gay zum Zuschussgeschäft wird, sagt das viel aus über den Stellenwert der Leichtathletik als Stadionereignis. Und über mutmaßliche Fehleinschätzungen ihrer Vermarkter. 50 bis 70 Euro kosten die durchschnittlichen Tickets, Schüler und Studenten erhalten bloß - wenig familienfreundliche - 20 Prozent Rabatt. Offenbar versucht sich die Leichtathletik in Berlin gerade teurer zu verkaufen, als sie noch ist.

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