Wenn kleine Jungs gefragt werden, was sie mal werden wollen, sagen sie Lokomotivführer oder Cowboy oder Astronaut, und auch der Sportreporter ist immer noch ein Sehnsuchtsberuf. Der Sportreporter aus Jungsträumen kommt umsonst in die Stadien und sitzt dort auf sehr guten Plätzen, von denen aus er die Sportler anfeuern und gelegentlich abklatschen kann, wenn einer mal ganz nah vorbeiläuft.
Der Sportreporter aus Jungsträumen ist ein privilegierter Zuschauer, ein Fan, und einigen Jungs, die später Sportreporter werden, fällt es schwer, sich von dieser Idee zu verabschieden. Man sieht das oft auf den Pressetribünen: Besonders Sportreporter aus südamerikanischen Ländern und solche aus dem alten Ostblock tragen gern das Trikot ihrer Nationalmannschaft, wobei es bei den Südamerikanern in der Regel besser sitzt als bei denen aus dem Osten.
Sigi Heinrich und Dirk Thiele sind zwei ältere deutsche Sportkommentatoren beim Sender Eurosport. Auch wenn sie kein Trikot tragen, gehören sie eindeutig zu denen, die der romantischen Idee vom Sportreportersein nicht nur nachhängen, sondern sie beleben, in jeder ihrer Reportagen. Gerade sind Heinrich und Thiele bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin stationiert, und ihr Sender erlaubt es ihnen, mit ewigem Kinderblick in die Arena zu schauen.
Eurosport ist bisher nicht auffällig geworden, wenn es darum ging, genauer hinzusehen bei Doping und anderen unappetitlichen Themen. Bei Eurosport sind Tour de France-Fahrer immer noch Gewinner im Kampf mit sich selbst. Bei Eurosport sind sogar Gewichtheber, für die sich sonst wirklich kein Mensch mehr interessiert, nach wie vor Helden und Herkulesse. Der Sender ist der Rückzugsort für Reporter und Zuschauer, die sich den Spaß nicht verderben lassen wollen.
Heinrich und Thiele schleppen allerhand volkstümliche Begriffe im Sprachbaukasten mit sich herum, mit denen sich die gewünschte heimelig-verschwitzte Stimmung beschwören lässt. Bei Heinrich, dem Bayern, überwindet dauernd jemand "den inneren Schweinehund". Bei Thiele, dem Ostdeutschen, geht es darum, für den Schlussspurt "die Körner aufzusparen".
Der Schweinehund war immer schon ein sprachliches Westphänomen, während die Körner ein Ostwort sind, wobei - nach allem, was bekannt ist - gelegentlich Weiterentwicklungen der sogenannten Körner nicht nur eingeworfen, sondern auch gespritzt werden, aber das erzählen die Männer von Eurosport einem Publikum eher nicht, das davon sowieso nichts wissen will.
Der Menschenfischer und der Marktschreier
Thiele ist ein Fachmann für die Wurfsportarten, Heinrich liebt den Sprint. Thiele kennt noch mehr Floskeln als Heinrich, der auch schon sehr viele kennt. Wer mit dem Teufel speisen will, braucht einen langen Löffel, das wissen beide, und besonders bei Thiele hängt oft jemand die Fahne hoch oder rennt einer durchs Bild, der frech wie Oskar ist - eine Formulierung, die inzwischen sogar in volksmundorientierten Berliner Taxifahrerkreisen eher vermieden wird.
Während sich Thiele nach Menschenfischerart anschleicht, preist Heinrich schon in ruhigen Momenten die Leistungen der Sportler an wie im Home-Shoppingkanal der Marktschreier die Saugkraft eines Staubsaugers. Als Usain Bolt seinen Hundert-Meter-Weltrekord lief, gingen - wie Thiele sagen würde - die Gäule endgültig durch mit Sigi Heinrich. 9,58 Sekunden brauchte der Jamaikaner, und jeder vernünftige Mensch stellt sich da die Frage, ob das mit rechten Dingen zugeht.
Leichtathletik-WM 2009:Schön stark
Bei der WM in Berlin zeigen die Athletinnen die schöne Seite der Leichtathletik - natürlich immer das Wettkampfziel vor Augen.
In Jungsträumen gibt es aber keine Zweifel, und so geriet Heinrichs Reportage zu einer gebrüllt vorgetragenen Verteidigungsrede auf Usain Bolt. "Er stellt ja nur Rekorde für die Ewigkeit auf, und er verkürzt die Begriffe der Ewigkeit." - "Ein Mozart des 100-Meter-Laufs, das ist er ganz bestimmt. Vielleicht noch ein Beethoven, ein Haydn und was der Teufel noch dazu." - "Klar ist auch, große Menschen bewegen sich schneller, auch wenn es langsamer aussehen mag, man braucht nur einen Blick ins Tierreich werfen, da ist das ja auch so ähnlich." Selbst das Eurosport-Stammpublikum konnte dem Reporter bei seinem letzten Gedanken kaum folgen, obwohl es durch die Wrestling-Sendungen im Spätprogramm an den Blick ins Tierreich gewöhnt sein sollte.
Für einen wie Heinrich erklärt sich das Unerklärliche durch Bolts Talent. Den Schwimmreportern hat sich das Unerklärliche zuletzt durch die neuen Anzüge erklärt. Irgendwas gibt es immer, das einen davor bewahrt, kompliziertere Überlegungen anstellen zu müssen. "Die Fakten bestehen im Moment nur aus drei Nummern: 9 Punkt 5 8. So ist das", rief er nach Bolts Weltrekord, und es klang nach "Basta!"
Thiele und Heinrich haben im vergangenen Jahr den Deutschen Fernsehpreis für ihre Olympia-Berichterstattung bekommen, übrigens im Rahmen jener Gala, bei der Marcel Reich-Ranicki mit gewissem Recht erklärt hatte, es gäbe zu viel Blödsinn im Fernsehen. Sie sind nicht allein mit ihrer Sicht der Dinge, Bolt nicht als Monster zu begreifen, sondern als Mozart. Gerade jüngeren Zuschauern geht die Doping-Debatte auf den Geist, und wenn ein Event wie der in Berlin stattfindet, werden sowieso alle mitgerissen. "Damit wir im Laufen auch mal was gewinnen: Wir tauschen Sylt gegen Jamaika", schrieb gestern die Bild.
Bei Eurosport tun sie alles dafür, die Stimmung des Augenblicks aufzunehmen, und Heinrich rechnet in diesen Tagen mehr oder weniger beiläufig auch mit denen ab, die den Zirkus kritischer sehen und Bolts supermännliche Rituale verdächtig finden oder wenigstens lächerlich. "Man darf doch einem 22-Jährigen den Freiraum geben, sich auszuleben, wenn er der schnellste Mann der Welt ist", verfügte er vor dem Rekordlauf, bevor er nachher in bereits heiserem Tonfall die Wissenschaftler ins Visier nahm, wobei er nicht verriet, welche genau er meinte, Sportmediziner oder Philosophen oder alle zusammen: "Da können sich alle Wissenschaftler dieser Erde irgendwo in irgendeiner Katakombe vergraben - sie haben alle nicht recht!"
Am nächsten Tag fand der 100-Meter-Lauf der Frauen statt, es gewann Shelly-Ann Fraser, ebenfalls Mitglied der auf einmal unschlagbar starken Läufertruppe aus Jamaika. Sigi Heinrich wirkte wie auf Normaltemperatur heruntergeregelt, Fraser hatte ja auch keinen Weltrekord aufgestellt, sondern war die drittbeste je gelaufene Zeit gerannt, schneller waren nur Florence Griffith-Joyner und Marion Jones.
Bei der Wiederholung rausgeschnitten
Shelly-Ann Fraser trägt eine Zahnspange, bei einer 22-Jährigen ist das zumindest ungewöhnlich. Ohne ihr etwas zu unterstellen: Jeder weiß, dass Hormone vor allem die Kieferpartie wachsen lassen, eine Spange kann da korrigierend wirken. Man konnte die Spange gut sehen, weil Shelly-Ann Fraser so viel lachte nach ihrem Sieg. Frauen haben in der Leichtathletik noch nicht diese coolen Playstationgesichter wie Bolt, sie lachen erleichtert oder stolz oder glücklich, je nachdem.
Wenn man so etwas schon öfter gesehen hat, am Fernseher oder live im Stadion, fällt einem beim Anblick des lachenden Gesichts der drittschnellsten Frau der Welt sofort das der zweitschnellsten ein: Marion Jones, inzwischen geständige Doperin, wegen Meineids ein paar Monate im Gefängnis. Und das Gesicht der schnellsten: Florence Griffith-Joyner, lange Zeit nur mittelmäßig, plötzlich stark und breit und schnell. 1996 erlitt sie einen leichten Schlaganfall, zwei Jahre später starb sie. Epileptischer Anfall im Schlaf. Sie war 38.
Sigi Heinrich, ein alter und irgendwie postmoderner Sportreporter, kennt diese Geschichten, aber er erzählte sie jetzt nicht. Er sah Shelly-Ann Fraser und ihre Zahnspange, er sagte: "Ich hab auch eine getragen und bin trotzdem nicht so schnell gelaufen."
Bei der Wiederholung am nächsten Tag haben sie den Satz rausgeschnitten.