Leichtathletik-WM:Dieser kleine freche Speer

Gold-Favoritin Christina Obergföll übersteht in der Qualifikation einen unerklärlichen Schwächeanfall und bleibt zuversichtlich.

Thomas Hahn

Das musste ein Witz sein, ein Streich, den der Sport ihr spielte. Christina Obergföll lachte spöttisch: dieser kleine freche Speer. Widersetzt sich meiner Kraft. Senkt sich zu früh, um mich, die Weltjahresbeste und Gold-Favoritin, zu ärgern in dieser Qualifikation der WM von Osaka. 59,92 Meter, deutlich unter der Weite von 61 Metern, die sie automatisch für das Finale am Freitag qualifiziert hätte.

Leichtathletik-WM: Christina Obergföll konnte doch noch jubeln: Sie schaffte es knapp ins Finale der WM.

Christina Obergföll konnte doch noch jubeln: Sie schaffte es knapp ins Finale der WM.

(Foto: Foto: Reuters)

Na warte, dachte Christina Obergföll. Im zweiten Versuch würde sie mit mehr Gefühl ans Werk gehen, dann würde der Speer das Fliegen schon lernen. Aber auch im zweiten Versuch landete der Speer zu früh. 60,77 Meter. Sie lachte nicht mehr. Verwirrt schaute sie ihrer Leistung hinterher. Was war los? Warum fliegt der Speer nicht? Und als der letzte Versuch auch nur 60,49 Meter brachte, fluchte sie laut. Sie weinte vor Wut. Warum hier? Warum jetzt dieser Anfall von Schwäche? Werner Daniels, ihr Trainer, machte Zeichen von der Tribüne. Es werde schon alles gut gehen. Aber Christina Obergföll sagte: ,,Für mich war es schlimm, weil ich nie geglaubt hätte, dass ich so einen Blödsinn mache.''

Es ist dann tatsächlich alles gut gegangen. Als auch die Final-Anwärterinnen der zweiten Gruppe ihre Würfe gemacht hatten, stand fest, dass Christina Obergföll ihre Siegchance behält: als Neuntbeste der 32 Starterinnen, als drittbeste Deutsche hinter der jungen Linda Stahl (62,80) und Europameisterin Steffi Nerius (61,89).

Letztlich war es nicht einmal richtig knapp. Aber ein kleiner Schock ist dieser Vormittag trotzdem gewesen für Christina Obergföll, und die unangenehme Erinnerung daran, dass man auch als überragende Speerwerferin der Saison, mit den sieben besten Würfen weltweit und einem Europarekord von 70,20 Metern noch verlieren kann.

Diese verflixten Qualifikationen. Sie können ein Karriere-Sprungbrett sein wie für Christian Reif aus Ludwigshafen, 22, der am Mittwoch mit persönlicher Bestleistung von 8,19 Metern überraschend ins Weitsprungfinale an diesem Donnerstag aufstieg, oder eben für die Leverkusenerin Linda Stahl, 21, die ebenfalls eine Bestleistung erzielte. Und sie können Medaillenanwärter vorzeitig aus der Bahn werfen.

Gerade unter jungen Weltklasse-Werfern kann es schon mal vorkommen, dass sie sich genau in dem Moment am schwersten tun, in dem schon ein besserer Trainingsversuch zum Weiterkommen reicht. Der Anspruch, das Normale abzurufen, setzt Sportler manchmal mehr unter Druck als die Hoffnung, über sich selbst hinauszuwachsen.

Dieser kleine freche Speer

Christina Obergföll hatte geglaubt, gegen solche Probleme mittlerweile gewappnet zu sein. Sie ist konstant durch die Saison gekommen, sie hat nicht verloren, sie hat kaum schlechte Weiten gehabt. Sie konnte gar nicht anders, als selbstbewusst zu sein. Zumindest für diese WM dachte sie, das Schlimmste ausschließen zu dürfen. Tags zuvor beim Pressetermin hatte sie nicht einmal aus Chronistenpflicht die Qualifikation zur Hürde erklärt. Und auch nach dem Negativerlebnis tat sie nicht so, als hätte sie Respekt vor dem Termin gehabt. Jede Wette wäre sie eingegangen, dass sie keine Probleme bekommt: ,,Wenn mir jemand 100 Euro auf den Tisch gelegt hätte, die hätte ich genommen.''

Wie konnte das passieren? Christina Obergföll war ratlos. Die Bedingungen vielleicht? Der Wind? Die Hitze, die an diesem Vormittag unter einem bewölkten japanischen Himmel allerdings gar nicht so schlimm war? Christina Obergföll glaubte nicht daran: ,,Ich fand nicht, dass man mit den Bedingungen nicht zurechtkommen konnte.'' Sie dachte an die Tageszeit. Zehn Uhr Wettkampfbeginn nach keiner ganz ruhigen Nacht und frühem Aufstehen. Andererseits hatte sie sich doch beim Einwerfen gut gefühlt. ,,Ich weiß es nicht'', sagte sie, ,,es ist alles so ein bisschen an mir vorbeigegangen.'' Und am Ende blieb als Lösung nur noch ihr Unterbewusstsein und das, was sich darin abspielte bei ihrer ersten Qualifikation als hohe Gold-Favoritin.

Mit dem ersten Wurf hatte sie schon alles klar machen wollen. Sie hatte ihren Eltern, die nachts um drei daheim die Live-Übertragung verfolgten, sogar gesagt, dass sie bei gutem Gelingen gleich wieder ins Bett gehen könnten. Aber dann verkrampfte sie, versuchte sich für den nächsten Versuch zu lockern und wurde ,,zu ruhig'', wie sie sagte. Am Schluss ,,war ich nervös, das geb' ich zu''.

Christina Obergföll ist eine emotionale Frau, abhängig von den Stimmungen, die einen Wettkampf umgeben. An diesem Vormittag im schlecht besuchten Nagai-Stadion konnte sie die Begeisterung nicht aufbauen, die sie zum Werfen braucht. Steffi Nerius sagt auch, dass man als Favoritin nicht mit voller Konzentration in die Qualifikation geht: ,,Man ist vom Kopf her schon ein bisschen aufs Finale fixiert.'' Christina Obergföll wird lernen müssen, ihre Motivation besser zu verwalten.

Vielleicht wird sie nun ein Fall für die beiden Teampsychologen, die in der WM-Mannschaft diskret und individuell ihre Arbeit tun, damit sie die Unannehmlichkeiten verdrängen kann. Sie fing schon im Stadion damit an. Sie wich keiner Frage aus, sie stellte sich und bemühte sich um so etwas wie Normalität in den Turbulenzen. Alle sollten wissen, dass sie nur unter den sehr eigenen Gesetzen der Qualifikation Schwierigkeiten hatte bekommen können. ,,Das hat nichts damit zu tun, was ich am Freitag anstelle'', sagte Christina Obergföll. Ihre Probleme waren ein Witz, nichts weiter. Das musste sie jetzt glauben.

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