Kamera aus, Licht aus, schon hatte Ramil Guliyev wieder das Telefon am Ohr. Weiterlaufen zur nächsten Station, Telefonieren, Licht an, Kamera an, Telefon aus. Der 27-Jährige kam nur mühsam voran am Donnerstagabend bei der Leichtathletik-WM in London, aber er hatte auch Anrufe aus höchsten Staatskreisen anzunehmen. Der türkische Präsident Recep Erdoğan rief an, berichtete Guliyev später, "er hat gesagt, das ist ein großer Sieg für unser Land." Die erste Goldmedaille über 200 Meter für die Türkei zu gewinnen, das wird auch am Bosporus als gewichtig wahrgenommen.
Gold für Bolt und van Niekerk - so sah der Plan aus
Die 100 und 200 Meter sind die Wettbewerbe, auf die sich die Zuschauer in der Vergangenheit am meisten gefreut haben, weil diese ein gewisser Sprinter aus Jamaika mit Unterhaltungsprogramm gefüllt hat. Der grobe Plan für diese WM sah so aus: Usain Bolt holt Gold über die 100 Meter und tritt mit einem Staffelsieg ab (für die 200 war er nicht fit genug); der schon als Nachfolger gehandelte Wayde van Niekerk gewinnt die 200 und 400 Meter, womit er das erste Double über diese Distanzen seit Michael Johnson 1995 in Göteborg und 1996 bei Olympia in Atlanta holen würde. Der eine kriegt seine Abschiedsfeier, der andere beginnt mit seiner Legendenbildung. In beiden Fällen ist es anders gekommen.
Wayde van Niekerk aus Südafrika sprintete am Donnerstagabend zu Silber, so knapp, dass ein Fotofinish über Platz zwei und drei entscheiden musste. Und dann weinte er erst mal, im Fernseh-Interview mit der BBC. Doch der 25-Jährige war nicht traurig, weil Gold an den Türken Guliyev ging und nicht an ihn, im Gegenteil. "Das war eine harte Woche für mich", sagte van Niekerk, "nach den 400 Metern gab es Leute, die meinten, ich hätte den Sieg nicht verdient." Seine Tränen waren geprägt von Erleichterung, Freude über das Erreichte - aber auch von der erfahrenen Kränkung. Van Nierkerk sagte: "Ich habe nicht den Respekt bekommen, den ich verdient habe."
Am Dienstag hatte er sich Gold über 400 Meter geschnappt, in einem Finale, das von da an seine WM prägen sollte. Weil sein starker Konkurrent Isaak Makwala aus Botswana wegen Symptomen einer Magen-Darm-Grippe nicht antreten durfte und dann ein Streit mit dem Weltverband IAAF entbrannte, wie krank er tatsächlich sei, ob er in Quarantäne gehöre oder nicht, wer ihm überhaupt so eine Chance verwehren dürfe. Verschwörungstheorien machten die Runde; ausgerechnet Michael Johnson stellte die Theorie auf, die IAAF wollte den größten Konkurrenten van Niekerks bewusst am Siegen hindern.
Makwala war trotz Finalteilnahme unglücklich
Makwala, der "ein gebrochenes Herz" hatte, weil er ja unbedingt laufen wollte, sagte dem TV-Sender ITV News dann auch diesen Satz: "Ich glaube fast, das ist Sabotage." Daraus entnahm van Niekerk den Vorwurf, man habe ihm einen Sieg schenken wollen. Ausgerechnet ihm, dem Weltrekordhalter über 400 Meter, aufgestellt vor einem Jahr bei Olympia in Rio. "Ich habe immer wieder bewiesen, dass ich verdiene, was ich erreiche", sagte van Niekerk nun und schluchzte ein wenig. Bei der Pressekonferenz fuhr er dann fort: "Um ehrlich zu sein: Ich war schon etwas verärgert." Wenn er über seine Konkurrenten redet, steckt in jedem zweiten Satz die Formulierung "massive respect", "den zeige ich jedem Einzelnen", sagte van Nierkerk, auch gegenüber Makwala, über Jahre hinweg. Dass er dann so etwas behaupte, "war für mich etwas enttäuschend. Ich hätte mehr von ihm erwartet."
Den Vorlauf über 200 Meter hatte Makwala am Mittwoch nachholen dürfen, weil die Quarantänezeit abgelaufen war. Zwei Stunden später spurtete er erfolgreich ins Finale. Am Donnerstagabend nun reichte es für ihn nur zu Platz sechs. "Ich bin nicht glücklich, die beiden Rennen gestern haben zu viel Kraft gekostet", sagte er, aber auch: "Ich denke, über 400 Meter hätte ich eine Medaille geholt." Botswanas Sportminister Thapelo Olopeng will ihm trotz der verpassten Gelegenheit die Prämie für die Goldmedaille zukommen lassen, es ist ein Preisgeld von 10 000 US-Dollar.
Von dieser Ausgangslage geprägt sollte das 200-Meter-Finale ohne Bolt, aber mit dem Zweikampf von van Niekerk gegen Makwala bestimmt werden, beide hatten ihre Sympathisanten im Publikum gefunden. Nachdem Justin Gatlin Usain Bolt das 100-Meter-Finale vermiest hatte - der Jamaikaner holte sogar nur Bronze -, war diesmal Ramil Guliyev der Partyschreck: er siegte in 20,09 Sekunden.
Als er Gewinner feststand, weinte auch er. "Ich habe es für möglich gehalten und habe es gemacht", sagte Guliyev, der von van Niekerk alle Anerkennung bekam. "Ich muss hart arbeiten, um Gold zu gewinnen oder um Silber zu verteidigen und ich danke meinen Gegnern dafür", sagte der Südafrikaner.
Guliyev hat große Teile seinen Lebens in Aserbaidschan verbracht, startet 2008 bei Olympia in Peking für die ehemalige Sowjetrepublik. Er ging später in die Türkei und tritt seit 2011 auch für das Land an. Was ihm auch die ein oder andere Dopingfrage einhandelte, schließlich sind in der Vergangenheit schon einige Sportler positiv getestet worden. "Jeder Athlet geht seinen eigenen Weg", sagte Guliyev nun, "niemand wird gezwungen, einen anderen Weg zu gehen." So übersetzte es jedenfalls sein Dolmetscher, den er mitgebracht hatte.
Die neuen Sprint-Weltmeister heißen Gatlin und Guliyev, und van Niekerk über 400 Meter. Aber: Dem Publikum bleibt ja noch eine Chance, Bolt mit Abschiedsgold zu erleben. Wenn er am Samstag mit der Staffel startet, endet seine große Karriere. "Ich danke ihm für die großen Sachen, die er geleistet hat", sagte van Niekerk noch, fand aber gar nicht schade, Duelle gegen den Weltrekordler verpasst zu haben. "Das ist jetzt meine Generation", sagte er und schaute Guliyev und den Bronzegewinner Jereem Richards aus Trinidad und Tobago neben sich an: "Ich habe noch große Gegner."