Leichtathletik-WM:Die Götter in Berlin

Eine 9,58. Der Lärm einer Flugzeuglandung. Eine magische Stille. Die Leichtathletik-WM bot göttliche Momente - und auch einen unentschuldbaren Skandal.

Thomas Hummel

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Olympiastadion Berlin;ddp

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Die deutsche Mannschaftsleitung hat sich bei Goethe bedient. Eine Leichtathletik-WM, die irgendwann nicht nur als Laufen, Springen und Werfen vor vielen Menschen in Erinnerung bleiben soll, benötigt schließlich eine Idee. Die DLV-Spitze zitierte dazu den großen Dichter:

"Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz."

Und die Götter, die die WM in Berlin begleiteten, hielten sich an Goethes Anweisung, und gaben wirklich alles.

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Usain Bolt;dpa

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Unendliche Verblüffung: Usain Bolt

Die Menschen sahen Usain Bolt und fragten sich: Welche Götter sind da am Werk? Wie kann es sein, dass sie einen Menschen mit so viel Bewegungstalent, Muskeln und Lockerheit ausstatten, dass er dem Rest der Welt einfach mal so "goodbye" zuruft?

9,58. 19.19. Diese Zahlen über 100 und 200 Meter stehen für immer für diese Berliner WM. Vielleicht schließt man sich einfach der Einschätzung anderer Sportler an: "He's a freak of nature" - er ist eine Laune der Natur, sagten einige. Er würde sie inspirieren, sie seien froh und dankbar, dabei gewesen sein zu dürfen, als Usain Bolt lief. Ist der Jamaikaner vielleicht selbst ein Gott?

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Bronze-Frauenstaffel;dpa

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Unendlicher Lärm: Frauen-Staffel

Gut, die vier Frauen hatten Glück, dass die Amerikanerinnen wieder einmal im Vorlauf den Stab verloren. Aber Glück hin oder her, als Verena Sailer auf Platz drei liegend ins Ziel lief, riss sie wie ein Mittelstürmer die Arme hoch. Und weil das Leichtathleten eigentlich nicht tun, fiel sie gleich "auf die Schnauze", wie sie es später formulierte.

Als das Publikum am ausverkauften Samstag beim Kurvenlauf der dritten Läuferin Tschirch merkte, dass die Deutschen gut lagen, hob ein Lärm an, als würde ein Flugzeug auf dem Spielfeld landen. Nüchterne Menschen nahe dem Rentenalter schrien sich die Seele aus dem Leib. Sailers Lauf zu Bronze wurde von Schallwellen begleitet, dass man Angst haben musste, das Stadiondach würde gleich abheben. Vielleicht zwang auch das die Sprinterin in die Knie.

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Ariane Friedrich;ddp

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Unendliche Stille: Ariane Friedrich

Im voll besetzten Stadion glaubte man, das Klicken der Kameras unten auf der Laufbahn zu hören. Klick, klick, und man wollte diesem unverschämten Fotografen zurufen: Hör' auf damit, diese Stille bekommt du ohnehin nicht auf dein Bild. Diese Stille! Sie verursachte mehr Bauchspannung als der großartigste Weltrekordlauf, weil sich diese Spannung einfach nicht lösen durfte. Nicht in einem Schrei ausdrücken, in einem Stöhnen entladen durfte.

Hochspringerin Ariane Friedrich kam nicht mit der Bahn zurecht, weshalb sie ihren Anlauf "hören" wollte und die Zuschauer um Ruhe bat. Was die 60.000 so verstanden, dass sie gefälligst das Atmen einstellen sollen. Als Friedrich die Latte im entscheidenden Sprung riss, kam es zum lautesten "Aahh" der Geschichte. Ein magischer Moment.

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Silke Spiegelburg;ddp

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Unendlicher Schmerz: Silke Spiegelburg

Noch mehr als eine Stunde, nachdem Silke Spiegelburg die Latte das letzte Mal an diesem Abend gerissen hatte, irrte sie fast orientierungslos durch die Katakomben des Olympiastadions. Die Tränen liefen ihr wieder herunter, ihre sonst so feste blaue Schminke auf den Augenlidern war längst verwischt. Silke Spiegelburg war Vierte geworden im Stabhochsprung, und konnte das einfach nicht begreifen. Sie glaubte, die Chance ihres Lebens verpasst zu haben.

Sie war geschockt von dem Erlebnis, den vielleicht besten Sprung ihrer Karriere bei 4,75 Meter erlebt zu haben, doch weil sie nicht auf ihren Trainer gehört hatte und die Einstellungen der Sprunganlage falsch ansagte, fiel die Latte. Das war zu viel für die 23-Jährige aus Leverkusen, die schon im Stadion hemmungslos weinte.

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Jelena Issinbajewa;dpa

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Unendliche Größe: Jelena Issinbajewa

Und wäre der Herr aus dem Block A ganz oben unter dem Dach des Olympiastadions herabgestiegen und hätte gefragt: Jelena, Jelena, was ist passiert? Jelena hätte geantwortet. Sie hätte zum 50., ach was, 70., nein, 90. Mal die Sporttasche abgestellt und diesem unbekannten Herrn erklärt: "Ich habe keine spezielle Begründung für das. Ich weiß nicht, warum das passiert ist. Das ist Sport!"

Jelena Issinbajewa hat zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren einen Stabhochsprung der Frauen nicht gewonnen. Weil sie spät in den Wettkampf einstieg, schaffte sie nicht einen gültigen Versuch. Ein Salto Nullo, wie das die Springer nennen. Es war das größte Scheitern dieser WM.

Doch während andere Stars gerne das Weite suchen, stellte sich die Russin allen und jedem. Sie hangelte sich zwei Stunden lang von Fragesteller zu Fragesteller, blieb auch beim letzten noch freundlich und blickt ihm respektvoll in die Augen. Es war der Abgang - nein, der Auftritt - einer großen Sportlerin.

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Jennifer Oeser;Reuters

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Unendliches Stehaufvermögen: Jennifer Oeser

Was wurde nicht alles gesagt zu Jennifer Oesers 800-Meter-Lauf im Siebenkampf. Er stünde für so viele Qualitäten, die jeder Mensch in unserer Leistungsgesellschaft brauche: Durchhaltevermögen, Kämpferherz, Willensstärke - kurz: Man darf hinfallen, aber man nicht liegenbleiben.

Jennifer Oeser kam nach ihrem Sturz 450 Meter vor dem Ziel ziemlich schnell wieder auf die Beine, was dem Umstand geschuldet war, dass sie bei ihrer Polizeiausbildung Abrollen geübt hatte. Sie rollte also ab - und weil das Publikum den Schock des Sturzes mit emphatischem Geschrei verarbeitete, rannte die 25-Jährige aus Leverkusen wieder nach vorne, überholte fast die gesamte Konkurrenz und gewann tatsächlich noch Silber.

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Berlino; Reuters

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Unendlicher Spaß: Berlino

Das vermutlich lustigste Maskottchen der Geschichte durfte nicht sprechen. Alle Interview-Anfragen an diesen Typen, der in diesem Bärenfell steckte und mit Usain Bolt die ersten Partys feierte, wurden abgeblockt. Die Organisatoren wollten Berlino Berlino bleiben lassen und nicht als einen Stefan Müller oder Kevin Becker entlarven.

Und so bleibt das lustigste Maskottchen der Geschichte ein schweigender Stoffbär, der nun wieder lautlos verschwinden wird. Und vielleicht, vielleicht taucht er ja irgendwann am Strand von Kingston, Jamaika, auf und tanzt mit Usain Bolt noch einmal den Weltrekord-Step.

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Blanka Vlasic; AFP

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Unendliche Kraft: Publikum

Blanka Vlasic, die große Gegenspielerin der deutschen Favoritin, sagte: "Ich habe die positive Energie gespürt. Ich merke, wenn die Leute nur klatschen, wenn sie müssen. Aber sie wollten wirklich, dass ich gut springe." Vlasic sprang dann auch höher als Ariane Friedrich, eigentlich Liebling des Publikums und deutsche Goldhoffnung. Was im Olympiastadion aber bald schon niemanden mehr störte.

An ein paar Tagen waren vielleicht etwas zu wenige Menschen in diesem für die Leichtathletik vielleicht etwas zu großen Stadion. Doch diejenigen, die dort waren, brachten eine enorm große Kraft mit. Sie schenkten jedem Athleten, der ihnen nur ein bisschen auffiel, ihren Beifall. Und wenn ein heimischer Athlet den Sprint um Platz neun gewann, wenn eine Japanerin 30 Sekunden später als der Rest ankam, wenn eine Kroatin eine Deutsche besiegte - sie jubelten den Athleten zu und berauschten sich auch ein wenig an sich selbst.

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Meselech Melkamu; dpa

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Unendlich großer Irrtum: Meselech Melkamu

Irgendetwas musste nach 9998 Metern den Blick von Meselech Melkamu getrübt haben. Denn nach diesen 9999 Metern riss die Frau aus Äthiopien bereits die Arme nach oben zum Zeichen des Sieges und brach den Endspurt ab. Rechts von ihr sprintete Linet Masai noch vorbei und holte für Kenia eine prestigeträchtige Goldmedaille über 10.000 Meter.

Das ist nun immer ein sehr lustiges Bild, wenn Sportler schon vor dem Ziel siegesgewiss die Spannung verlieren, und unter ihren Achseln, haha, noch jemand durchwischt. Doch für Meselech Melkamu war dies tatsächlich ein fürchterliches Ereignis. "Ich bin sehr, sehr enttäuscht, dass wir Gold verloren haben", klagte Meselech Melkamu. Sie sprach nicht von ihr, sondern von wir. Von ganz Äthiopien.

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Chatbi; AFP

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Unendliche Ratlosigkeit: Doping

Als kurz vor der WM bekannt wurde, in Afrika und Russland sei in diesem Jahr kein einziger Bluttest bei Leichtathleten vorgenommen worden, war das in etwa so verblüffend wie die Zeiten von Bolt. Anti-Dopingkampf? Brauchen wir nicht. Haben keine Labore.

Der österreichische Doping-Vermittler Stefan Matschiner erzählte, dass er in vom Weltverband akkreditierten Laboren geheime Voruntersuchungen in Auftrag geben konnte, damit seine dopenden Sportler sicher sein konnten, sie kommen durch die Tests. Solche Geschichten machen ratlos und sähen Zweifel über die Leistungen von Berlin. Dass es die üblichen Überführten aus der zweiten Reihe gab, diesmal Nigerias Langsprinterin Amaka Ogoebunam und der marokkanische Hindernisläufer Jamal Chatbi (im Bild), ändert daran nichts.

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Robert Harting; AFP

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Unendlich großer Zwiespalt: Robert Harting

Der Diskus solle aufspringen und auf diese Brillen fallen, damit niemand mehr etwas sieht. Dieser Satz von Robert Harting gegen die Opfer des DDR-Dopingsystems und ihrer Aktion, mit Brillen auf das ihrer Meinung nach immer noch vorhandene Problem Doping hinzuweisen, hat viel kaputtgemacht.

Er hat zum Beispiel die Begeisterung am grandiosen Wettkampf des Berliners beeinträchtigt. Harting wurde Weltmeister, im letzten Versuch, eigentlich eine Heldengeschichte. Doch im Ton hatte er sich zu arg vergriffen. Mit diesem Zwiespalt mussten der Athlet, der Verband, das Publikum, die Medien umgehen. Irgendwie.

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Steven Hooker, Reuters

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Unendliche Nervenstärke: Steven Hooker

Der australische Olympiasieger im Stabhochspringen dürfte Issinbajewas Scheitern gesehen haben. Dennoch blieb ihm keine Wahl. Wegen einer Muskelverletzung musste er pokern, durfte erst ganz spät in den Wettkampf einsteigen, weil er nach eigener Aussage nur einen, vielleicht zwei Versuche absolvieren konnte.

Also saß er da und schaute dem anderen beim Ausscheiden zu. Zwei Franzosen blieben übrig, als Hooker zum ersten Mal antrat. Der Australier riss 5,85 Meter, das Spiel schien verloren. Doch er bewegte sein Bein und merkte: Einer geht noch. Also ließ er gleich auf 5,90 Meter erhöhen - und sprang drüber. Danach setzte er sich wieder und holte sich später Gold ab.

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Martin Keller; ddp

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Unendliches Nichtstun: Martin Keller

Es waren lange 100 Meter. Sehr lange. Martin Keller ging, blieb bisweilen stehen, kniete auch mal nieder, schlug die Hände vors Gesicht. "Da war nur Leere im Kopf", sagte der 22-Jährige aus Chemnitz.

Eigentlich wollte er ja laufen, und das ziemlich schnell. Doch dann wartete er vergeblich auf den Stab der 4x100-Meter-Staffel, den er doch mitbringen muss bei seinem Lauf. Marius Broening und Alexander Kosenkow hatten den Wechsel vermasselt. "Ich hab mich umgedreht, hab mich gefragt, was los ist und gedacht - ahhhh", schilderte Keller. Es war noch ein weiter Weg bis ins Ziel.

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Caster Semenya; AP

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Unendliches Unglück: Caster Semenya

Dass Caster Semenya in Berlin gelaufen ist, ist einer der größten Skandale in der jüngeren Sportgeschichte. Nicht deshalb, weil sie eventuell intersexuelle Körpermerkmale hat und vielleicht deshalb den anderen im 800-Meter-Rennen so leicht und locker davon lief. Sondern weil eine Stunde vor dem Rennen die Nachricht um die Welt ging, sie müsse einen Gentest absolvieren, um sicher zu gehen, dass sie eine Frau ist.

Eine derartige Demütigung eines 18-jährigen Mädchens hat es noch nicht gegeben. Offenbar sind weder dem südafrikanischen Verband noch dem Weltverband IAAF bereits vor der WM eingefallen, dass man vorher klären muss, ob Semenya aus bestimmten Gründen in Berlin nicht an den Start gehen sollte. Jetzt ist es zu spät. Zumindest für Caster Semenya.

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