Von den vielen Marken, die der einstige Langstreckenläufer Daniel Komen in die Leichtathletik gepflanzt hat, war wohl keine so groß wie der Weltrekord über 3000 Meter. Jenen 7:20,67 Minuten, die der Kenianer im September 1996 in Rieti lief, hechelten selbst die damaligen Großmeister Haile Gebrselassie und Hicham El Guerrouj vergeblich hinterher, und das mehrmals. Komen hielt seine Marke für derart gut, dass er Reportern vor Jahren erzählt haben soll: Wer diese 3000-Meter-Fabelzeit auslöscht, dürfe ihn besuchen und seinen Mercedes mitnehmen.
Nun hat Komen im vergangenen Jahr enthüllt, dass sein Angebot von damals mit einem Ablaufdatum versehen sei, die Offerte leider nicht mehr gelte. Verdient hätte sich Jakob Ingebrigtsen die exquisite Karosse mit seinem Auftritt beim Diamond-League-Meeting in Chorzow jedenfalls redlich. Als der 23-Jährige am Sonntag nach 3000 Metern ins Ziel rauschte, seine Zeit auf der Tafel erblickte, geriet sein Gesicht kurz zur Reminiszenz an Edvard Munchs Schrei-Gemälde. 7:17,55 Minuten, das war sechs (!) Sekunden flotter als seine bisherige Bestmarke aus dem Vorjahr – und noch immer drei weniger als Komens Mercedes-Rekord von 1996. Da rückte sogar der nächste Weltrekord von Stabhochspringer Armand Duplantis in Chorzow (6,26 Meter) in den Hintergrund.

Stabhochsprung bei Olympia:Willkommen auf dem Planeten Duplantis
Stabhochspringer Armand Duplantis bietet mit einem neuen Weltrekord über 6,25 Meter selbst seinen Konkurrenten eine Show, die sie dankbar annehmen. Seinen Triumph umranken wunderbare Geschichten.
Traditionell werden die Leichtathleten immer müder, je näher der Herbstausklang rückt, aber nicht erst seit dieser Saison halten sie einfach munter ihr Rekordtempo. Vor allem die Langsprinter und Läufer rücken kollektiv in Bereiche vor, die lange so erstrebenswert waren wie die Todeszone jenseits der 8000 Meter im Bergsteigen. Jakob Ingebrigtsen etwa: Der mag auf kürzeren Distanzen nicht den besten Endspurt haben – die letzten drei großen Rennen über 1500 Meter verlor er –, aber mit Tempomachern läuft keiner so rasend. In Chorzow benötigte er für die siebeneinhalb Runden im Schnitt 58,34 Sekunden, oder anders verpackt: Er lief die 1500 Meter zweimal in 3:38 (!) Minuten. „Wild“, befand das der einstige Weltmeister Bernard Lagat in den sozialen Medien. Komens 3000-Meter-Zeit war der härteste Weltrekord im Laufsegment, so Lagat, härter gar als Hicham El Guerroujs 3:26:00 über 1500 Meter. Denen war Ingebrigtsen zuletzt in Monaco bedrohlich nahe gerückt, in 3:26,73.
Was nimmt sich also einer vor, der mit 23 Jahren fast alle Medaillensätze gewonnen hat, immerhin auch schon drei Weltrekorde hält, neben 3000 Meter auch über 2000 (4:43,13) und zwei Meilen (7:54,10)? „Weltrekorde über alle Distanzen!“, richtete Ingebrigtsen in Chorzow fröhlich aus.
In dieser Tonart geht es gerade quer durch fast alle Läufe und Sprints. Allein 2024 fielen in der Stadionleichtathletik: der Weltrekord über 60 Meter Hürden in der Halle (Devynne Charlton und Grant Holloway), über 400 Meter in der Halle (Femke Bol), 1500 Meter im Freien (Faith Kipyegon), 2000 Meter (Jessica Hull), 10 000 Meter (Beatrice Chebet), 400 Meter Hürden (Sydney McLaughlin-Levrone) und über die Meile auf der Straße (Emmanuel Wanyonyi). Letzterer ist Teil eines Dreigestirns mit dem Kanadier Marco Arop und dem Algerier Djamel Sedjati, das zuletzt David Rudishas 800-Meter-Weltrekord (1:40,91 Minuten) attackierte – Wanyonyi kam jüngst in Lausanne in 1:41,11 am nächsten. Wer bei Rudishas unwirklichem Rekordlauf in London dabei war, als der Kenianer schlicht nicht langsamer wurde, weiß ungefähr, was das für eine Leistung ist. Spätestens in Brüssel, beim Finale der Diamond League Anfang September, werde Rudishas Rekord fallen, glaubt Europameister Gabriel Tual aus Frankreich.
Das neue Material spielt eine große Rolle. Aber lässt sich damit alles erklären?
Nun rattern die Beteiligten routiniert die üblichen Erklärungen herunter. Starke Konkurrenz. Neue Bahnbeläge. Tolle Trainingsgruppen, die etwa die Britin Keely Hodgkinson mitverantwortlich dafür macht, dass sie sich über 800 Meter zuletzt auf 1:54,61 Minuten verbesserte. Und sich unerschrocken Jarmila Kratochvilovas 1:53,28 Minuten vornahm, den mit 41 Jahren ältesten und mit verseuchtesten Freiluftweltrekord des Sports (auch wenn Kratochvilova stets bestritt, gedopt zu haben). Allein ein Blick in die Statistik legt indes nahe, dass vor allem die neuen Spikes, die auch in der Stadionleichtathletik mit ständig neuen Modellen im Einsatz sind, das Niveau geschlossen verrücken. Grob gesagt, fängt den Athleten bei jedem Schritt ein Spezialschaum samt Karbonschiene auf und drückt den Sportler beim Abrollen nach vorn. Allein 2024 stießen 32 Leichtathletinnen und -athleten in den Sprints und Läufen im Stadion in die historische Top-Ten-Liste ihrer Disziplinen vor. In den restlichen Disziplinen waren es 16.
Schon praktisch, wenn das Material da als Erklärung herhalten kann – und in Vergessenheit rückt, dass die Betrugsquoten im Sport nach wie vor hoch sind. Wie der Weltverband unlängst bekannt gab, waren zwei Athleten aus Bahrain rund um die Tokio-Spiele 2021 mit Blutdoping aufgeflogen, außerdem hatte der Nationalverband bis 2021 einen Trainer beschäftigt, der wegen Dopings gesperrt war. Die Sanktion: Bis Sommer 2025 dürfen Athleten aus Bahrain nur bei Olympia in Paris und bei der WM 2025 starten, und das nur mit je zehn Sportlern. Das hält Athletinnen wie Salwa Eid Naser indes nicht davon ab, nach drei verpassten Dopingtests samt Sperre schon wieder Olympiasilber über 400 Meter zu gewinnen wie jetzt in Paris, in 48,53 Sekunden – nicht einmal eine Sekunde langsamer als Marita Kochs irrwitzige 47,60 Sekunden. Wie lange dieser Weltrekord wohl noch hält?