Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Vorsichtig durchs Minenfeld

Angesichts der besonderen Umstände hinterlassen die deutschen Leichtathleten bei ihren Meisterschaften einen eher lauwarmen Eindruck.

Von Johannes Knuth, Braunschweig

So ein Laufsteg verspricht für gewöhnlich Glamour, er ist eine Bühne für Außergewöhnliches und Merkwürdiges, manchmal auch für außergewöhnlich Merkwürdiges. Bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Braunschweig stand der schwarzgetünchte Steg, den sie im Stadion für die Drei- und Weitspringer hochgezogen hatten, vor allem für jene Improvisationskunst, die sich durch die gesamten Titelkämpfe gezogen hatte. So ein Sprungsteg ist ja eine tückische Sache, er federt und lärmt bei jedem Schritt, viele Athleten wirft das erst mal aus dem Rhythmus. In der Regel lassen sie in Braunschweig bei großen Leichtathletikanlässen eine vollwertige Sprunganlage in den Rasen ein, aber diese hat halt auch einen vollwertigen, rund fünfstelligen Preis. Und das konnten in diesem Jahr weder der nationale Dachverband noch die örtlichen Mitstreiter aufbringen, die wegen der Corona-Restriktionen ohne Zuschauer auskommen mussten.

Eines konnte man dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) und allen weiteren Beteiligten am Ende jedenfalls nicht vorwerfen: dass sie nicht Einiges geschultert hatten für ihre sehr speziellen Titelkämpfe, die sie in Braunschweig über die Bühne gebracht haben. "Unter den speziellen Rahmenbedingungen hat der Verband was Gutes auf die Beine gestellt, auch in der Kürze der Würze - das muss man einfach anerkennen", befand der Speerwerfer Johannes Vetter, der seinen Wettkampf trotz einer wechselhaften Vorbereitung mit sehr würzigen 87,36 Metern gewonnen hatte. Mit dieser Meinung hätte Vetter bei Umfragen im Kollegenkreis vermutlich mit einer überwältigenden Zustimmung rechnen können; weniger Einigkeit herrschte darüber, was man mit den sportlich insgesamt eher lauwarmen Eindrücken des Wochenendes anfangen sollte. Waren diese der speziellen Situation geschuldet - oder doch das Symptom eines tieferliegenden Problems?

Vetter erneuerte in Braunschweig seine Beschwerde, die er zuvor über viele Spitzenkräfte geäußert hatte, die sich mehr oder weniger kurzfristig abgemeldet hatten. "Wenn ich daran wieder denke, ärgere ich mich schon", sagte der 27-Jährige. Er verstehe nicht, dass einige rund um die Meisterschaften Wettkämpfe bestreiten, sich für Braunschweig aber entschuldigt hatten, "weil sie hier vielleicht nicht unter die Top Drei laufen". Namen nannte Vetter nicht, manche Kollegen, wie Sprinterin Gina Lückenkemper, fühlten sich aber offenbar angesprochen und setzten, nachdem sich auch in den sozialen Netzwerken Kritik geregt hatte, zu einer Gegenrede an. Sie habe wegen der Corona-Pandemie monatelang nicht in den USA trainieren können, wie sie es ursprünglich geplant hatte, sagte Lückenkemper, zuletzt habe sie sich auch noch verletzt - da wollte sie ihr Comeback nicht gleich beim Saisonhöhepunkt riskieren (wie es andere Rekonvaleszente wie Speerwerfer Andreas Hofmann gewagt hatten). Tatsächlich hatte die 23-Jährige ein valides Anliegen: Was, wenn im harten Infight mit der Konkurrenz die nächste Verletzung aufgebrochen wäre?

Annett Stein, die Chef-Bundestrainerin des DLV, bewegte sich dann auch mit großer Vorsicht durch ein Minenfeld voller unterschiedlicher Aspekte. "Wir hätten uns gerne noch ein paar Topathleten mehr gewünscht", sagte sie. In einem Jahr, in dem längst sämtliche internationale Leistungsmessen weggefallen sind, müsse aber auch Platz für beides sein, "für ein Luftholen als auch ein Ich-beschreite-meinen-Weg-konsequent-weiter", sagte Stein, so, wie es etwa die jungen Sprinter um den neuen 100-Meter-Meister Deniz Almas getan hatten. Stein verwies auf 60 persönliche Bestleistungen, die die Anwesenden in Braunschweig geschafft hatten, sie lobte vor allem die 400-Meter-Läuferinnen, die sich im Sog der starken Oberpfälzerin Corinna Schwab (51,72 Sekunden) kollektiv verbessert hatten, und dann war da natürlich auch Malaika Mihambo. Die Welt- und Europameisterin im Weitsprung hatte trotz verkürztem Anlauf und schwingendem Sprungsteg 6,71 Meter in die Siegerliste eingetragen, bei voller Schubkraft hätte sie es vermutlich mal wieder in Richtung sieben Meter katapultiert. Der Titel, sagte Mihambo, habe für sie einen "hohen symbolischen Wert" - vermutlich auch, weil er ein bisschen Aufbruchsstimmung erzeugt hatte, wo zuvor noch Stillstand und Ungewissheit geherrscht hatte.

Idriss Gonschinska, der Generaldirektor des DLV, sah sich im Lichte dieser Debatten genötigt, am Ende noch mal grundsätzlicher zu werden: "Man muss auch akzeptieren, dass Athleten in so einer Situation sich ganz unterschiedlichen emotionalen Bewältigungsstrategien hingeben", sagte er, denn: "Wir stecken noch immer in einer Pandemie, die so noch keiner erleben musste." Das verarbeite jeder Mensch unterschiedlich, von daher stütze man auch Athleten, "die in ein Loch gefallen sind". Man habe auch niemanden, der nicht in Form war, in Braunschweig an den Start gezwungen. Vetter überzeugte dieser differenzierte Ansatz nicht vollends - er befand, dass Weltklasseathleten sich ruhig zu einer nationalen Meisterschaft durchboxen dürfen. "Das ist das Engagement, das wir unserer Gesellschaft zeigen müssen, gerade in dieser Phase", fand er. Für die finale Wertung müssen sich beide Seiten wohl bis mindestens nächstes Jahr gedulden. Dann sollen in Tokio alle Vorbereitungsstränge zusammenschnurren - nach langem Luftholen.

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SZ vom 11.08.2020
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