Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Vor dem Schaufenster

Hochspringer Tobias Potye war noch bei der offiziellen Einkleidung, dann verpasste er die Olympischen Spiele von Tokio doch. Trotzdem kann der deutsche Meister mit seiner Saison zufrieden sein.

Von Andreas Liebmann

Der Regenponcho, der wäre es gewesen, sagt Tobias Potye. "Ein Highlight, den hätte ich gerne gehabt."

Das auffällige Kleidungsstück ist ihm nun entgangen, dem Hochspringer von der LG Stadtwerke München, obwohl er es schon vor der Nase hatte, noch keine zwei Wochen ist das her. Ein Truck vor dem Münchner Olympiastadion, offizielle Einkleidung der deutschen Athleten für die Olympischen Spiele, und Potye, 26, war dabei. Nun ist er es nicht mehr. Er hat seine erste Olympiateilnahme knapp verpasst, was ihn natürlich mehr beschäftigt als das entgangene Kleidungsstück.

Ehrlicherweise hatte er es bei der Einkleidung schon geahnt, die ungewöhnlich hohe Norm von 2,33 Metern hatte er ja verpasst. Und dass er es noch via Weltrangliste schaffen würde, diese Chance sei nicht gerade riesig gewesen, "fifty-fifty, eher weniger". Fast war es, als sehe er sich die Olympiakollektion nach Ladenschluss durch eine Schaufensterscheibe an. Seit der fünften und letzten Nominierungsrunde des Deutschen Olympischen Sportbunds am vergangenen Wochenende hat er Gewissheit: Acht andere Springer lagen am Ende weltweit vor ihm. Nun wird als einziger Deutscher Mateusz Przybylko am Hochsprung in Tokio teilnehmen, nicht Potye, der zuletzt Vierter der Hallen-EM in Torun war, der aktuelle deutsche Meister, der mit 2,27 Metern in Sinn die deutsche Bestleistung dieses Jahres im Freien aufstellte. Potye könnte sich nun trösten damit, dass es in Tokio nicht mal Zuschauer geben wird, nicht dieses einmalige Gemeinschaftserlebnis im Olympischen Dorf. Er habe an sich selbst gemerkt, dass "der Spirit" nie so recht aufkommen wollte. Dennoch: Natürlich wäre es ein besonderer Wettkampf geblieben, betont er; einer, bei dem er unbedingt dabei sein wollte; einer, der sein Ziel war während der vergangenen Jahre und damit seine Rechtfertigung für jeden Aufwand und jede Qual. "Im Sport gibt es keine Garantien", sagt er nun. Und: "Ich bin jetzt nicht komplett am Boden zerbröselt."

Beim Sinner Meeting gelang es ihm mal, die Knieschmerzen völlig auszublenden

Potyes Vereinskolleginnen Christina Hering und Katharina Trost haben ihre Tickets für den 800-Meter-Lauf erhalten, darüber hinaus haben es aus Bayern Alexandra Burghardt (Wacker Burghausen) im 100-Meter-Sprint und in der 4×100-Meter-Staffel sowie Tristan Schwandke (TV Hindelang) im Hammerwurf nach Tokio geschafft. Trost hatte die Norm spät und etwas überraschend erfüllt, am 20. Juni im polnischen Chorzow, als sie ihre bisherige Bestzeit in 1:58,68 Minuten nahezu pulverisierte. Potye hatte seine letzte Chance Ende Juni in Leverkusen. 2,24 Meter. Rang vier. Inzwischen weiß er: Auch ein Sieg mit 2,30 Metern, jener Höhe, der er schon so lange vergeblich nachjagt, hätte nicht gereicht.

2017 war der einstige U20-Europameister schon einmal schwer damit beschäftigt, den Leistungssport für sich infrage zu stellen, zu oft verletzt, zu ungewisse Aussichten. Dass er nun so nah an Olympia herankam, gibt seinem Durchhalten im Prinzip Recht. Die Geschichte von Tobias Potye gibt es aber nicht ohne die seines Knies, seiner Patellasehne, die ihm schon seit Jahren zu schaffen macht. Beim Sinner Meeting war es ihm gelungen, die Schmerzen auszublenden, daran arbeitet er intensiv. "Fast aus dem Nichts" sei er so zu dieser Höhe gekommen, leicht habe sie sich angefühlt. In Leverkusen gelang es nicht. Potye hat nun eine neue Therapie begonnen, von der er sich erhofft, die Schmerzen nicht nur aus dem Kopf, sondern tatsächlich aus dem Gelenk zu bekommen. Er habe nun mehr Zeit dafür, das sei das Gute.

Ein Saisonfazit? Eigentlich "eine starke Performance", stellt Potye fast verblüfft fest

Kurzfristig allerdings hat er noch etwas anderes vor. Er hat es von der Warteliste zum Diamond-Meeting in Gateshead bei London geschafft, am nächsten Dienstag, sein erster Auftritt dieser Art. Nun muss er in den Wettkampfmodus zurückfinden und "einen Berg von Formularen" bewältigen.

Tobias Potye klingt irritiert, als er ein Fazit seiner Saison ziehen soll, dazu habe er sich noch keine Gedanken gemacht. Kurz denkt er nach, dann klingt er fast verblüfft: "Eigentlich eine starke Performance", stellt er fest, so alles in allem. "2,27 Meter ist gut", auch wenn das natürlich keinen Meeting-Veranstalter und keinen Sponsor interessiere, sondern nur, dass er nicht bei Olympia war. "Dann muss ich mich nächstes Jahr eben über gute Höhen verkaufen", folgert er, "das war sowieso der Plan." Die Heim-EM 2022 steht bevor. Und dann?

Bis zu den nächsten Olympischen Spielen in Paris wäre Tobias Potye 29. Viel wichtiger als dieses nächste große Ziel auszurufen, sagt der Münchner, wäre ihm der Weg dorthin, die Frage also, ob er seine Schmerzen loswird, diese "Mehrlast", die er mit sich trage. Es sei nicht gut, so lange mit Schmerzen zu kämpfen. Aber unter dieser Voraussetzung - warum nicht? 2017 habe er beschlossen, dass er noch nicht alles gezeigt habe, dass er wissen wolle, wie weit er kommen kann. "Ich will es immer noch wissen", stellt er fest.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5347604
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/jki
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.