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Doping bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft:Den schlimmsten Betrügern hinterher

Wie sehr kann man den Leistungen bei der WM trauen? Die Leichtathletik-Fahnder rühmen sich dafür, wahrhaftig unabhängig zu operieren, der angesehene Doping-Jäger Travis Tygart spricht von "Hoffnung" - doch es bleiben Fragen.

Von Johannes Knuth, Eugene

Blessing Okagbare, eine der besten Sprinterinnen der Welt, bestellt bei einem Dealer Stoff, der sie fit für den ganz großen Lauf machen soll: Epo für die Regeneration, Wachstumshormon für die Spritzigkeit. Der Dealer der Sprinterin, ein gewisser Eric Lira aus El Paso, Texas, ordert das Zeug aus Mittel- und Südamerika. Er erklärt Okagbare und einem zweiten, öffentlich nicht bekannten Athleten, wie sie die Substanzen einnehmen sollen, damit die Tests nicht ausschlagen. "Eric, was auch immer du gemacht hast, es funktioniert so gut!", schreibt Okagbare ihm. In ihrer Heimat Nigeria läuft sie im Juni 2021 die 100 Meter in 10,63 Sekunden, nur Florence Griffith-Joyner war je schneller, bei ihrem Fabelweltrekord.

Okagbare ahnt nicht, dass ihr die Anti-Doping-Tester längst an den Fersen hängen - und Ermittler des FBI. Ein Kronzeuge hatte bei jenem Athleten, für den Okagbare den Stoff mitbestellte, in der Wohnung einen Koffer mit Wachstumshormon gefunden, dazu Liras Telefonnummer. Tester setzen erneut Kontrolleure auf Okagbare an. In einem Trainingslager, kurz vor den Tokio-Spielen, gibt sie eine Blutprobe ab, die später positiv ist. Kurz bevor sie in Tokio im Halbfinale läuft, ziehen Offizielle sie von der Bahn. Als sie in die USA zurückkehrt, wo Okagbare damals lebt und trainiert, konfiszieren Ermittler ihr Handy, samt Text- und Sprachnachrichten.

Wenn Travis Tygart heute darüber spricht, redet er von einer "wunderschönen Geschichte", und man muss ihm diese Prosa wohl nachsehen: Als Chef der amerikanischen Anti-Doping-Agentur (Usada) ist er selbstredend angetan, wenn Kontrolleure und staatliche Fahnder ihre Kräfte so wunderschön verschweißen. Tygart weilt gerade in Eugene, die Leichtathletik-Weltmeisterschaften sind auch ein Heimspiel für die Usada, sagt er vor Reportern, man sei verantwortlich dafür, dass alles sauber zugehe.

Zumal bei Leistungen, die einem Tag für Tag die Sinne vernebeln, am Dienstag allein bei den Männern: 71,13 Meter im Diskuswurf, 3:29,23 Minuten über 1500 Meter, 46,29 Sekunden über die Langhürden. Nur: Wenn Tygart, einer der angeseheneren Jäger seines Fachs, über die heutige Ermittlungsarbeit in der Leichtathletik spricht, redet er tatsächlich von Tendenzen, die ihm "eine Menge Hoffnung" spenden.

Vor der WM traf es bislang drei Athleten - allesamt große Namen

Die Latte lag freilich nicht allzu hoch, wenn man bedenkt, dass die alte Administration Positivproben vertuschte, um das Betrugsproblem ihres Sports zu verhüllen. Sebastian Coe, Nachfolger des mittlerweile verstorbenen Lamine Diack, löste das Anti-Doping-Ressort aus dem Verband heraus - die "Athletics Integrity Unit (AIU)" war geboren - und stattete es mit einem Jahresbudget aus, heute knapp acht Millionen Dollar.

"Die Mentalität im Sport ist noch immer: Wer ein Anti-Doping-System zahlt, der kontrolliert es auch", sagt Tygart. Der Leichtathletik-Weltverband aber stelle mit der AIU "ein unglaubliches Beispiel" für unabhängige Kontrolle parat, findet er: "Es erfordert Mut, derart die Kontrolle abzugeben." Zumindest wenn man in einer Industrie unterwegs ist, in der viele Verbände ihre Hochglanzwettbewerbe zugleich kontrollieren und verkaufen.

Seit 2017, der Grundsteinlegung der AIU, hat sie jedenfalls einige Prominenz enttarnt. Vor Eugene traf es Nijel Amos aus Botswana, den Silbergewinner über 800 Meter von 2012 in London, auch den Kenianer Lawrence Cherono, einen großen Favoriten im Marathon, wegen Positivtests. Randolph Ross, der aktuelle US-Meister über 400-Meter, wurde provisorisch gesperrt, weil er Ermittlungen gegen sich behindert haben soll. Vor zwei Jahren, laut des letzten verfügbaren Geschäftsberichts, testete die AIU knapp 1200 Athleten, daraus resultierten 164 Anti-Doping-Verfahren - eine durchaus beachtliche Quote. Davon mündeten bis vor zwei Jahren aber auch erst weniger als ein Drittel in erstinstanzliche Urteile.

Das wahre Ausmaß des Betrugs? Eine Studie, die der Weltverband vor rund einem Jahrzehnt in Auftrag gab, unter anderem bei Forschern der Universität Tübingen, hatte eine Quote von bis zu 40 Prozent eruiert (woraufhin die damalige Verbandsführung die Studie lange nicht publizieren wollte). Weiterführende Arbeiten seien gerade in Arbeit, sagt David Howman, der frühere Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur, heute AIU-Vorstand, in Eugene.

Er verweist fürs Erste darauf, dass die Leichtathletik, als einer von wenigen Weltverbänden, ihre eigenen Dopingproben aufbewahrt und mit neuen Verfahren analysiert. Wer als besonders dopinggefährdeter Verband eingestuft wird, darf Athleten nur entsenden, wenn diese eine bestimmte Zahl an Kontrollen außerhalb eines Wettkampfes absolviert haben (2021 verpassten deshalb 20 Leichtathleten die Tokio-Spiele, vor Eugene blieben derartige Fälle aus). "Uns geht es nicht um Mitläufer", sagt Howman, "wir wollen die schlimmsten Betrüger enttarnen. Das machen nicht viele Sportarten."

Der Usada-Chef warnt davor, dass auch unschuldige Athleten verurteilt werden könnten

Okagbares Fall ist wiederum beachtlich, weil er der erste ist, der unter dem neuen Rodtschenkow-Act verbrieft ist, benannt nach dem Kronzeugen des russischen Dopingskandals. US-Ermittler dürfen dank des Gesetzes auf jedes Sport-Großevent zielen, an dem eine US-Firma beteiligt ist, auf nahezu jede Weltmeisterschaft also. Okagbare sei erst der Anfang, sagt Travis Tygart, "weitere Fälle sind gerade in Arbeit." Ob die russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa, deren Fall bei Olympia in Tokio weltweite Schlagzeilen machte, darunter ist, will er auf Nachfrage nicht bestätigen.

Das Gesetz habe sich in der Praxis aus einem weiteren Grund bewährt, sagt Brett Clothier, der AIU-Chef: Man könne Betrüger zwar nach wie vor nicht lebenslang sperren, Doper wie Okagbare dafür aber schon mal zehn Jahre sanktionieren, weil diese nicht kooperierten. Das war nur möglich, weil die Beweiskette, die staatliche Ermittler geknüpft hatten, so dicht war.

Tygart warnt indes davor, es vor lauter Eifer zu gut zu meinen. Die Messmethoden der Labore seien mittlerweile um ein Tausendfaches sensibler, so könne man Betrüger besser entblättern - spüre zugleich aber auch mehr Athleten auf, die unabsichtlich verunreinigte Substanzen zu sich nehmen. Fahnder hatten während der Olympischen und Paralympischen Spielen bei rund 80 Sportlern ein Stimulanz gefunden, das, wie Experten der Usada und des Kölner Anti-Doping-Labors herausfanden, in überall erhältlicher Sonnencreme steckt. Das bewahrte die Athleten vor einem Dopingverfahren. "Wir müssen aufpassen, dass wir solche Fälle anders handhaben als jene von bewussten Dopern", bekräftigt Tygart. Vielleicht hat er da auch die Geschichte des US-Weitspringers Jarrion Lawson im Kopf, der erst unter großen Anstrengungen und Kosten bewies, dass sein Positivtest auf ein Steak zurückzuführen war.

Das sind dann die nicht mehr ganz so schönen Geschichten.

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