Bei der Eröffnungsfeier haben sie damals "Heroes" von David Bowie gespielt, es war so etwas wie die inoffizielle Hymne der Olympischen Sommerspiele vor vier Jahren in London: "We can be heroes, just for one day", singt Bowie, wir können Helden sein, für einen Tag. Am nächsten Tag kann im Sport ja alles schon wieder ganz anders sein. Und je länger die Mittelstreckenläuferin Shannon Rowbury aus San Francisco über ihren Tag damals in London nachdenkt, kriecht dieses Gefühl in sie hinein. Dass ihr der Moment "geraubt" wurde, wie sie heute sagte.
Rowbury ist eine von 13 Läuferinnen, die am 10. August ins Finale über 1500 Meter vorgerückt sind. Es war, nach allem, was heute aktenkundig ist, das schmutzigste Rennen der Leichtathletik-Geschichte: Es ist ein Rennen, das noch immer auseinanderbricht, fast jedes Jahr werden neue Betrüger enttarnt. Es ist ein Rennen, das für den Zerfall der olympischen Kernsportart steht, wenn man es noch einmal vorüberziehen lässt. Und es ist ein Rennen, das jetzt, da die Olympiasaison 2016 anbricht, auch von der Chance auf einen Neubeginn erzählt, die in jedem Zerfall liegt.
Startschuss
Die Britin Laura Weightman wippt an der Startlinie auf und ab, aufgeregt, wie kurz vor der Weihnachtsbescherung. Sie lächelt flüchtig, als der Stadionsprecher ihren Namen vorträgt und warmer Applaus auf sie herabregnet. Die anderen lassen die Vorstellung routiniert über sich ergehen, die Außenseiter, die Favoriten, Abeba Aregawi, die Äthiopierin, oder die Türkin Aslı Çakır Alptekin, kräftige Wangenkochen, breite Schultern, selbst ihr Lächeln ist kräftig, zupackend. Alptekin hat bereits eine Sperre hinter sich, von 2004 bis 2006. Ein Versehen, beteuerte ihr Ehemann und Trainer; ein Arzt habe ihr eine Tablette gegen ein "Damen-Problem" verschrieben. Ganz innen warten Gamze Bulut/Türkei und Rowbury. Beide pusten einen Kuss in die Kamera. Dann laufen sie los.
Erste und zweite Runde
Als die Läuferinnen das erste Mal auf die Zielgerade eintauchen, sind sie dicht beisammen, ein buntes Knäuel, das sich durch die flirrende Nacht schiebt. Erst in der zweiten Runde bewegt sich das Feld, als habe jemand die Vorspultaste gedrückt. Gamze Bulut federt vorweg, mal antesten, wie die Konkurrenz reagiert. Bulut hat bei der EM vor fünf Wochen hinter Alptekin Silber gewonnen, ihre Bestzeit in dieser Saison von 4:18 auf 4:03 Minuten gedrückt. "Really a big improvement", sagt der britische Kommentator, in seiner Stimme liegt zarte Verwunderung.
Vor vier Wochen erfuhr man, woher Bulut ihre rätselhafte Kraft genommen haben könnte. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF bestätigte, dass man auf Unregelmäßigkeiten in ihrem biologischen Pass gestoßen sei, in jenem Profil, in dem Dopingfahnder Blutwerte von Athleten zusammentragen. Bei Bulut haben die Werte offenbar immer wieder ausgeschlagen, zwischen 2011 und 2013. Die 23-Jährige ist bis auf Weiteres suspendiert. Hohe Werte können auf Blutdoping hindeuten, aber man muss sie über eine Saison deuten, mindestens, oft länger. Und manchmal kann man aus den Werten nichts herauslesen, weil die Athleten sich an den Grenzwert herandopen, ganz gleichmäßig.