Doping:Das dreckigste Rennen der Leichtathletik

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Betrüger unter sich: Von den besten 1500-Meter-Läuferinnen in London wurde nur Maryam Jamal (4.v.l.) bislang noch nicht überführt oder verdächtigt. (Foto: Imago)

Sechs Starterinnen sind mittlerweile verdächtig oder des Dopings überführt: Die 1500 Meter der Frauen bei Olympia 2012 erzählen einiges vom Zerfall der olympischen Kernsportart.

Von Johannes Knuth

Bei der Eröffnungsfeier haben sie damals "Heroes" von David Bowie gespielt, es war so etwas wie die inoffizielle Hymne der Olympischen Sommerspiele vor vier Jahren in London: "We can be heroes, just for one day", singt Bowie, wir können Helden sein, für einen Tag. Am nächsten Tag kann im Sport ja alles schon wieder ganz anders sein. Und je länger die Mittelstreckenläuferin Shannon Rowbury aus San Francisco über ihren Tag damals in London nachdenkt, kriecht dieses Gefühl in sie hinein. Dass ihr der Moment "geraubt" wurde, wie sie heute sagte.

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Rowbury ist eine von 13 Läuferinnen, die am 10. August ins Finale über 1500 Meter vorgerückt sind. Es war, nach allem, was heute aktenkundig ist, das schmutzigste Rennen der Leichtathletik-Geschichte: Es ist ein Rennen, das noch immer auseinanderbricht, fast jedes Jahr werden neue Betrüger enttarnt. Es ist ein Rennen, das für den Zerfall der olympischen Kernsportart steht, wenn man es noch einmal vorüberziehen lässt. Und es ist ein Rennen, das jetzt, da die Olympiasaison 2016 anbricht, auch von der Chance auf einen Neubeginn erzählt, die in jedem Zerfall liegt.

Startschuss

Die Britin Laura Weightman wippt an der Startlinie auf und ab, aufgeregt, wie kurz vor der Weihnachtsbescherung. Sie lächelt flüchtig, als der Stadionsprecher ihren Namen vorträgt und warmer Applaus auf sie herabregnet. Die anderen lassen die Vorstellung routiniert über sich ergehen, die Außenseiter, die Favoriten, Abeba Aregawi, die Äthiopierin, oder die Türkin Aslı Çakır Alptekin, kräftige Wangenkochen, breite Schultern, selbst ihr Lächeln ist kräftig, zupackend. Alptekin hat bereits eine Sperre hinter sich, von 2004 bis 2006. Ein Versehen, beteuerte ihr Ehemann und Trainer; ein Arzt habe ihr eine Tablette gegen ein "Damen-Problem" verschrieben. Ganz innen warten Gamze Bulut/Türkei und Rowbury. Beide pusten einen Kuss in die Kamera. Dann laufen sie los.

Erste und zweite Runde

Als die Läuferinnen das erste Mal auf die Zielgerade eintauchen, sind sie dicht beisammen, ein buntes Knäuel, das sich durch die flirrende Nacht schiebt. Erst in der zweiten Runde bewegt sich das Feld, als habe jemand die Vorspultaste gedrückt. Gamze Bulut federt vorweg, mal antesten, wie die Konkurrenz reagiert. Bulut hat bei der EM vor fünf Wochen hinter Alptekin Silber gewonnen, ihre Bestzeit in dieser Saison von 4:18 auf 4:03 Minuten gedrückt. "Really a big improvement", sagt der britische Kommentator, in seiner Stimme liegt zarte Verwunderung.

Vor vier Wochen erfuhr man, woher Bulut ihre rätselhafte Kraft genommen haben könnte. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF bestätigte, dass man auf Unregelmäßigkeiten in ihrem biologischen Pass gestoßen sei, in jenem Profil, in dem Dopingfahnder Blutwerte von Athleten zusammentragen. Bei Bulut haben die Werte offenbar immer wieder ausgeschlagen, zwischen 2011 und 2013. Die 23-Jährige ist bis auf Weiteres suspendiert. Hohe Werte können auf Blutdoping hindeuten, aber man muss sie über eine Saison deuten, mindestens, oft länger. Und manchmal kann man aus den Werten nichts herauslesen, weil die Athleten sich an den Grenzwert herandopen, ganz gleichmäßig.

Dritte Runde

Die Russinnen schieben sich nach vorne, Tomaschowa und Kostezkaja. Tomaschowa, Weltmeisterin 2003 und 2005, brummte vor London eine mehr als zweijährige Sperre ab, weil sie eine Urinprobe einreichte, die nicht von ihr stammte. Sie hängt hinter Kostezkaja, die sich an die dritte Stelle schiebt. Ein Ellenbogenrempler hier, einer dort, niemand will eingekeilt sein, wenn jemand attackiert. Jede Sekunde kann jetzt richten, über Hero oder Zero.

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Jekaterina Kostezkaja wird 2014 gesperrt, für zwei Jahre, ebenfalls wegen verdächtiger Blutwerte. Seit vergangenem November sind alle russischen Leichtathleten von internationalen Wettkämpfen verbannt. Ob sie bei den Spielen in Rio antreten dürfen, ist ungewiss. Eine Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada hatte dem russischen Verband eine "tiefwurzelnde Kultur des Betrugs" attestiert. Eine Sammlung der schönsten Schweinereien: Athleten legten sich falsche Identitäten zu, um Tester zu täuschen. Funktionäre schufen ein Schattenlabor, das Dopingproben vortestete. Der Kreml "störte und beeinflusste" den Anti-Doping-Kampf, so steht es im Wada-Bericht. Der Kreml streitet alles ab.

Letzte Runde

Bulut führt noch immer, die anderen fallen langsam zurück. Ein Sturz, Ucency, die Amerikanerin kauert auf dem Boden, weint bitterlich. Fast hätte sie Aregawi mitgerissen, aber die Äthiopierin fängt sich, klemmt sofort wieder hinter der Spitze.

Kenia und Äthiopien dominieren seit Jahrzehnten die Mittel- und Langstrecke. Die Natur hat die Läufer aus den Hochebenen Ostafrikas mit leichten und wetterfesten Körpern ausgestattet. Allein in Kenia wurden seit London allerdings rund 40 Athleten positiv getestet, meistens von externen Prüfern, weil die Netze der nationalen Anti-Doping-Behörden durchlässig sind. Wenn überhaupt getestet wird. Am Dienstag beriet die Wada (nach Redaktionsschluss), ob man Kenias Leichtathletik als "nicht regelkonform" erklärt; die erfolgreichste Nation der WM 2015 könnte dann aus Rio ausgeladen werden. Aregawi, die mittlerweile für Schweden startete und 2013 für das Land Weltmeisterin über 1500 Meter wurde, flog Anfang März auf - mit Meldonium, einem in Osteuropa beliebten Präparat für Herzkranke, das die Durchblutung fördern soll. Weshalb es auch Athleten jahrelang konsumierten. Seit Januar 2016 ist das Mittel verboten. Sie dachte, es habe sich um ein Vitaminpräparat gehandelt, sagte Aregawi zuletzt.

Endspurt

Die Gegengerade, zum letzten Mal. Es ist der Moment, als Alptekin den Lauf an sich reißt. Sie prescht an die Spitze, als habe sie das Rennen gerade aufgenommen. Jamal zieht mit, Aregawi und Bulut im Schlepptau, aber es reicht nicht. Alptekin joggt die letzten Meter ins Ziel. Sie umarmt Bulut, die Zweite. Rowbury wird Sechste. Nach dem Rennen legt sich eine merkwürdige Stimmung über den Zielraum, die handelsüblichen Glückwünsche, die die Athleten austauschen, bleiben aus. Alptekin ist das egal, sie stößt ihre Hände in die Luft, als trommele sie gegen einen imaginären Boxsack. Für sie ist es der Höhepunkt einer Raketenkarriere. 2011 schied sie im WM-Halbfinale aus, 2012 dann EM-Gold, eine fabelhafte Bestleistung (3:56,62 Minuten), der Olympiasieg. Der erste für die Türkei in der Leichtathletik.

(Foto: 1500_doper)

In Alptekins Fall bündelt sich vieles, was vom Aufstieg und Zerfall des Sports erzählt. Nach London informiert sie der türkische Verband über Unstimmigkeiten in ihrem Blutpass. Papa Massata Diack, damals Marketingberater der IAAF und Sohn von Präsident Lamine Diack, tritt an die Alptekins heran. Man könnte eine Sperre vermeiden, gegen Geld. Offenbar hat Gabriel Dollé, Leiter des Anti-Doping-Ressorts, Diack Junior die verdächtigen Werte gesteckt; wie im Fall russischer Leichtathleten, die sich dann von Sperren freikauften. Die Alptekins verhandeln mit Diacks Söhnen Papa und Khalid, sie bezahlen ihnen Flüge und Hotelkosten, aber der Deal scheitert. Ende 2015 wird Alptekin für acht Jahre gesperrt, sie verliert alles, Bestzeiten, Titel seit 2010, den Olympiasieg. Gegen Diack Senior, Dollé und andere Mitglieder der alten IAAF-Spitze wird seit Monaten von französischen Staatsanwälten ermittelt, wegen Erpressung und Korruption.

Nachwirkungen

Sebastian Coe, seit August 2015 Präsident der IAAF, hat damals die Spiele von London organisiert, ein Jahr vor den Wettkämpfen versprach er: "London wird das beste Anti-Doping-Programm in der Geschichte haben." Ähnliches wird man demnächst vor Rio hören. Wie wenig Substanz in diesen Botschaften steckt, zeigt die Ergebnisliste der 1500 Meter. Sechs Athletinnen, die am 10. August 2012 das Rennen gestalteten, sind verdächtigt oder wurden überführt (siehe Kasten); dazu kommen zwei überführte Ukrainerinnen, die im Vorlauf ausschieden. Die 1500 Meter dürften damit den 100-Meter-Endlauf von Seoul 1988 als dreckigstes Rennen Olympias abgelöst haben, in dem sechs früher oder später befleckte Athleten mitwirkten, allen voran Sieger Ben Johnson. Die 1500 Meter von London erzählen vom gleichen Zerfall, sie erinnern auch an westliche Sportsysteme, die sich gerne porentief rein geben, wobei Studien hohe Dunkelziffern nahelegen. Und sie hinterlassen Fragen: Wie tief ruhen die Netzwerke hinter den Fällen, welche Hintermänner wirkten, wirken womöglich bis heute? Das sagen die Verbände nicht. Oder wollen es nicht wissen.

Und jetzt?

Der Journalist David Epstein, der über Doping in der Leichtathletik recherchiert hat, hat zuletzt ein interessantes Interview gegeben. Er glaube nicht, dass der Sport "dreckiger sei als andere Sportarten". In der Leichtathletik werde halt getestet, anders als in anderen Verbänden. Er sei in der Sportart auch einem seltenen Phänomen begegnet: "Dass die Athleten sich am lautesten über die Missstände beschweren", so Epstein; der Sport redet seine Probleme ja gerne klein. "Es ist offenbar ein Siedepunkt erreicht", glaubt Epstein.

Da ist Corinna Harrer, die Regensburgerin, die in London im Halbfinale über 1500 Meter scheiterte und unlängst forderte, jene Athleten öffentlich stärker zu würdigen, die seit Jahren im Stillen für die Gesperrten aufrücken. Da ist Beckie Scott, Athletensprecherin, die dem zahmen Wada-Präsident Craig Reedie just in einem offenen Brief Untätigkeit vorwarf und forderte, verdächtige Nationen stärker zu durchleuchten. Oder Alysia Montaño, USA, 800-Meter-Läuferin, die vor der Hallen-WM im März forderte, die einst überführten Teamkollegen Tyson Gay und Justin Gatlin für die Spiele in Rio auszuladen. Der Patient Leichtathletik ist krank, aber sein Immunsystem ist offenbar noch intakt, es versucht, die Krankheit aus dem Körper zu treiben. Auch wenn niemand so recht weiß, ob die Verbände die Rufe der Athleten beherzigen, nach tieferen Ermittlungen, Sanktionen und Schutz für Kronzeugen.

Weil sonst nicht nur die Spitze des Doping-Problems sichtbar wird, sondern irgendwann der ganze Eisberg? Shannon Rowbury hat sich vor Kurzem geäußert, nach der Geschichte mit Gamze Bulut. Rowbury (die laut eigener Auskunft eher ihre Karriere beenden als dopen würde) erzählte, wie sie damals heulte, während Bulut und Alptekin ihre Ehrenrunden drehten, wie sie ihrer Familie nach dem Rennen ein Lächeln vorspielte. "Ich bin dem Weltverband dankbar, dass er Fehler aus der Vergangenheit korrigiert", sagte Rowbury. "Aber ich bitte ihn, uns saubere Athleten endlich zu unterstützen." Von all den Sperren habe sie stets aus den Nachrichten erfahren, nie von der IAAF.

Sie habe aus all den Sperren aber auch etwas Gutes gezogen, im Stillen, sagt Rowbury. "Sie haben mich darin bestärkt, dass mein Bestes doch gut genug sein kann."

© SZ vom 06.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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