Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Spurensuche am Burrito-Stand

Lesezeit: 4 Min.

Zwischen bizarren Dopingrechtfertigungen und Weltrekorden: Die amerikanische Leichtathletik gibt kurz vor den Sommerspielen ein widersprüchliches Bild ab. Sogar der US-Präsident meldet sich zu Wort.

Von Johannes Knuth, München

Wenn sogar Gary Lineker, der einstige englische Fußball-Nationalspieler und mittlerweile hauptamtlicher Barde beim Kurznachrichtendienst Twitter, sich zu Fragen der Leichtathletik äußert, dann muss sich wohl ein Format von Weltrang ereignet haben. Anlass war, dass sich Lineker genötigt sah, ein Plädoyer für die amerikanische Sprinterin Sha'Carri Richardson zu halten. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass die 21-Jährige Marihuana konsumiert hatte, was ein vierwöchiges Arbeitsverbot nach sich zog. Lineker, wie viele Vorredner, fand das "ridiculous", lächerlich, denn: Die 21-Jährige sei ja im Sprint tätig und nicht im Hochsprung, auf Englisch: High Jump; wobei High, hihihi, auch den gepflegten Rausch meinen kann. Ob da wohl auch bewusstseinsvernebelnde Substanzen im Spiel waren?

Für Richardson war die Affäre jedenfalls mäßig amüsant: Sie hatte die kontaminierte Probe eingereicht, nachdem sie bei den US-Meisterschaften über 100 Meter gewonnen hatte, in 10,89 Sekunden. Der Titel und alle weiteren Meriten wurden ihr aberkannt, was insofern misslich ist, als dass nur die besten Drei der Trials zu den Sommerspielen versetzt werden - die Geschlagenen bleiben daheim, selbst wenn sie davor oder danach im Rückwärtslauf zum Weltrekord rasen. Richardson, im April schon in atemraubenden 10,72 Sekunden unterwegs, wird in Tokio sowohl die Staffel als auch die prestigeschwangeren 100 Meter verpassen, wie Landsmann Christian Coleman, der Doha-Weltmeister, der sich wegen drei verpasster Dopingtests um die Teilnahme gebracht hatte. Das passt wiederum in das widersprüchliche Bild, das die erfolgreichste Leichtathletiknation der Welt gerade mal wieder abgibt, kurz vor Olympia: zwischen Weltrekorden und Dopingsperren, die auf Haschisch und, jaja, angeblich verunreinigten Fleischspeisen fußen.

Richardsons Fall rief zuletzt noch die meisten Sympathien in der Heimat hervor: Der viermalige Olympiasieger Michael Johnson, Basketballgröße Dwyane Wade, Football-Profis der NFL, sie alle fanden, dass Haschischkonsum nicht in einer Sperre münden sollte. Sogar das Weiße Haus äußerte sich: Man respektiere den Kodex der Anti-Doping-Agenturen, sagte eine Sprecherin von Präsident Joe Biden, aber: "Sha'Carri Richardson ist eine inspirierende junge Frau, die viel durchgemacht hat." Mittlerweile sei sie eine der schnellsten Frauen der Welt, das sei ja auch ein wichtiger Teil der Geschichte, oder nicht?

Richardsons Mutter hatte die Tochter früh verlassen, sie wuchs bei der Tante auf, der sie viel zu verdanken habe, wie sie oft betont, wie auch ihrem Trainer Dennis Mitchell - jenem einstigen US-Sprinter mit einer zutiefst dopinggetränkten Vita. Zuletzt hatte Richardson offen über düstere mentale Täler gesprochen, durch die sie gewandert war. Kurz vor den US-Trials war ihre Mutter verstorben, das habe sie in einen "Zustand emotionalen Schmerzes" versetzt. Also der Griff zum Gras. Die Athletin bewies dann immerhin jene Weitsicht, an der es manchen ihrer Fürsprechern mangelte: Sie respektiere, dass ihr Sport sich Grenzen setze, sagte sie, dann werde sie eben im kommenden Jahr Weltmeisterin. Das rief wiederum Biden auf den Plan: "Ich weiß nicht, ob die Regeln die richtigen sind", richtete er aus, "aber ich bin sehr stolz auf ihre Reaktion."

Hürden-Olympiasiegerin Brianna McNeal fällt den Ermittlern mit einer verdächtigen Intervention auf

Verworrener liegt der Fall von Shelby Houlihan, 28: Eine Dopingprobe der US-Rekordinhaberin über 1500 und 5000 Meter hatte Spuren von Nandrolon offenbart, ein Klassiker der Dopingküche, von dem weder Houlihan noch ihr erfahrener Trainer Jerry Schumacher je gehört haben wollen. Houlihan führte nach einigen Recherchen aus, dass die Substanz per verunreinigtem Schweinefleisch in ihren Körper gelangt sein müsse, von einem Essensstand. Allerdings hatte sie dort gar kein Schweinefleisch geordert, sondern einen Burrito mit Rindfleisch - irgendwas müsse da wohl zusammengemischt worden sein. Houlihan legte sogar Haarprobe und Gutachten vor, das überzeugte aber weder die Leichtathletik-Integritätseinheit (AIU) noch den Sportgerichtshof Cas. Sie sei "am Boden zerstört" und habe nicht einmal einen fairen Prozess erhalten, polterte Houlihan zuletzt, wobei zumindest Letzteres irritierte: Ihr Fall hatte bis kurz vor den US-Trials alle sportrechtlichen Instanzen passiert, am Ende eine vierjährige Sperre abgeworfen. Der US-Leichtathletikverband hatte Houlihan sogar danach noch für die Trials nominiert - erst als sich Protest regte, auch unter US-Athleten, revidierte er die Zulassung.

Dann ist da noch der Fall von Brianna McNeal, 2016 Olympiasiegerin über 100 Meter Hürden: Die 29-Jährige war vor Jahren schon mal verbannt, auch sie hatte drei Dopingtests verpasst. Die AIU sattelte ihr nun eine weitere Sperre auf: McNeal hatte im Januar 2020 die Dopingtester an ihrer Tür nicht wahrgenommen - weil sie zwei Tage zuvor eine Abtreibung hatte, wie sie später ausführte, und sehr aufgewühlt gewesen sei. Sie leitete der AIU eine Bestätigung der Klinik weiter, änderte das Datum darauf aber um einen Tag näher an den verpassten Test heran - weil sie geglaubt habe, dass die Klinik das falsche Datum angegeben hatte. Eine verdächtige Intervention, fanden die Ermittler. Ein Irrtum, getroffen im Nebel großer Schmerzen, beteuerte McNeal, die bei den Trials zuletzt Zweite geworden war. Das Verdikt - fünf Jahre, de facto das Karriereende - wirkt da tatsächlich sehr hart. Der Cas hat das Urteil bereits bestätigt, die Begründung steht aber noch aus. Und jetzt?

Unstrittig ist, dass der Teich an Talenten im US-Team auch so tief reicht, die Trials hatten das zuletzt wieder verdeutlicht: Von Ryan Crousers unwirklichem Weltrekord im Kugelstoßen (23,37 Meter) über Grant Holloway (110 Meter Hürden/12,81 Sekunden), Raj Benjamin (400 Hürden/46,83) und Gabby Thomas. Letztere gewann die 200 Meter in 21,61 Sekunden, dabei jubelte die 24-Jährige schon mehrere Meter vor dem Ziel. Schneller war bislang überhaupt nur Florence Griffith-Joyner, "FloJo", die früh verstorbene US-Sprint-Queen, die selbst den Argwohn treuer Leichtathletikfans auf sich gezogen hatte. Was auch immer das für die neue amerikanische Sprintgeneration bedeutet.

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