Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Prothesen vor Gericht

Der Para-Sprinter Blake Leeper klagt vor dem Sportgerichtshof Cas gegen den Weltverband, weil er bei Olympia starten will.

Von Sebastian Fischer, Los Angeles/München

Der Sprinter Blake Leeper macht eigentlich genauso weiter wie bisher, obwohl er nicht weiß, ob es etwas bringt. Er trainiert auf der blauen Laufbahn im Drake-Stadium der UCLA, der Universität Kalifornien in Los Angeles. Er macht seine Übungen im Kraftraum. Er dreht Videos davon für seine durchaus populären Kanäle in den sozialen Netzwerken. Und er unterlegt sie meistens mit Rapmusik, mit dem Song "We ready" zum Beispiel, einer Art Motivationshymne. "Wir sind bereit für euch", heißt es im Refrain.

Ob der US-Amerikaner Leeper, 30, gegen die Gegner seiner Wahl bei den Olympischen Spielen in Tokio überhaupt antreten darf, das wird allerdings inzwischen offiziell nicht mehr auf der Laufbahn entschieden, sondern im Gerichtssaal.

Leeper dem seit der Geburt beide Unterschenkel fehlen, gewann bei den Paralympics 2012 in London Silber über 400 Meter hinter dem Südafrikaner Oscar Pistorius. Inzwischen ist er allerdings so schnell, dass er sich auf der größtmöglichen Bühne mit Menschen ohne Behinderung messen möchte. Er will auf Prothesen aus Karbon gegen Athleten auf zwei Beinen laufen, wie es zuvor bei Olympischen Spielen nur Pistorius gelang, 2012 in London. Und wie damals Pistorius zieht nun auch Leeper vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas, weil der Leichtathletik-Weltverband World Athletics ihm die Olympia-Teilnahme nicht erlaubt. Es wird der Höhepunkt eines langen Streits - und das nächste Kapitel einer Grundsatzdiskussion der modernen Leichtathletik.

Ende Februar wandten sich Leepers Anwälte Jeffrey Kessler und David Feher von der New Yorker Kanzlei Winston & Strawn, die einst auch Pistorius vertraten, nach langem Warten an die Öffentlichkeit. Zuvor hatte World Athletics, ehemals als IAAF bekannt, ihnen mitgeteilt, Leepers Antrag auf Teilnahme an Veranstaltungen des Weltverbands nicht stattzugeben. "Ich werde mich nicht beirren lassen", so wird Leeper in der Mitteilung der Kanzlei zitiert, in der Kessler und Feher bekanntgeben, gegen den Verbandsentschluss vor dem Cas in Berufung zu gehen. Laut Kessler geht es um einen "Kampf für Gleichheit im Namen aller Athleten mit Behinderung".

Im Zentrum der Debatte steht eine Regel, die der Weltverband 2015 einführte, als der deutsche Weitspringer Markus Rehm, an seinem Absprungbein unter dem Knie amputiert, an olympischen Wettkämpfen teilnehmen wollte. Seitdem gilt der Passus 144.3 (d), wonach Sportlern jede "mechanische Hilfe" untersagt ist, sofern sie nicht nachweisen können, dass ihnen diese Hilfe keinen Vorteil verschafft. Die Beweispflicht, die beim Pistorius-Urteil noch beim Verband lag, liegt nun beim Sportler, der somit etwas nachweisen muss, das nicht existiert. "Gesetzwidrig" und einen Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention nennen dies Leepers Anwälte. Es ist das erste Argument, auf das sie die Berufung stützen.

Das zweite Argument lautet, dass Leeper beweisen könne, dass er keinen Vorteil gegenüber nicht behinderten Athleten habe. Bereits im Fall Pistorius gab es ein Gutachten, das im Laufen auf Prothesen und auf Füßen zwei verschiedene Bewegungsformen erkannte. Karbonfedern verlieren beim schnellen Laufen bei Aufprall und Abstoß weniger Energie als ein menschliches Sprunggelenk. Nach gängigem Verständnis haben Prothesenläufer am Start Nachteile und auf der Geraden Vorteile, sie starten langsamer und werden schneller. Ob das einen Vorteil birgt, wird immer noch verschieden interpretiert. Im Fall Pistorius folgte der Cas in einem umstrittenen Urteil letztlich einem Gegengutachten.

Auch diesmal gibt es wieder gegensätzliche Beurteilungen in der Sache: Der Weltverband berief eine von Experten der Universität Queensland unterstützte Forschungskommission, deren Bericht ergab, Leeper nicht starten zu lassen. Leeper wiederum wird von Alena Grabowski unterstützt, die an der Universität Colorado an der Fakultät für Integrative Physiologie forscht und wie Leepers Anwälte schon Pistorius half. Grabowski fertigte mit neuen Untersuchungen eine Studie an, die ihr zufolge belegt, dass Leeper keinen Vorteil hat. Von der Kommission geäußerte Kritik nennt sie "nicht wissenschaftlich korrekt".

Es ist eine weitere Besonderheit am Fall Leeper, dass er gerade auch kein paralympischer Sprinter ist. Seit Jahren hat er keinen paralympischen Wettkampf mehr bestritten, und seine schnellen Zeiten, die er zumeist in nationalen Rennen lief, werden international nicht anerkannt. Denn nach einer Regeländerung des paralympischen Weltverbands IPC sind seine Prothesen zu lang. Doch auch dieser Regel will er sich nicht fügen. Und auch in dem Fall hat Grabowski kürzlich eine Studie vorgelegt, die zeigen soll, dass längere Prothesen nicht zwangsläufig zu höherer Laufgeschwindigkeit führen. Grabowski gilt einerseits als eine der Renommiertesten ihres Fachs; andererseits wird ihre Arbeit auch von Branchenkollegen mitunter sehr kritisch gesehen. Ähnliches gilt für Leepers Ruf unter paralympischen Kollegen. Leeper sei mit seinen nach alter Regel vermessenen Prothesen "viel zu groß", sagte der deutsche 400-Meter-Weltmeister der beidseitig amputierten Sprinter, Johannes Floors, während der Para-WM im vergangenen Jahr.

Leeper, der 2019 bei den US-Meisterschaften über 400 Meter Fünfter wurde und so theoretisch für die WM-Staffel der USA zur Auswahl stand, aber bei der WM in Katar nicht teilnehmen durfte, sagt: "Ich will nur eine faire Chance." Der Sportgerichtshof Cas bestätigt auf Anfrage, dass ein Verfahren im Gange sei. Wann verhandelt wird, sei noch unklar. Sehr wahrscheinlich ist nur, dass Leeper so lange weiter trainieren wird.

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SZ vom 11.03.2020
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