Leichtathletik bei Olympia:Wenn sie läuft, wackeln die Gewissheiten

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Seltene Extravaganz: Sydney McLaughlin-Levrone zelebriert Olympiagold samt Weltrekord mit einer Tiara. (Foto: Petr David Josek/AP)

400-Meter-Hürdenläuferin Sydney McLaughlin-Levrone gewinnt ihr zweites Olympiagold in Weltrekordzeit – und hat schon wieder neue Pläne.

Von Johannes Knuth

Viele schauen darauf, wie Athleten mit Rückschlägen umgehen, hat der Baseball-Manager A. J. Hinch einmal gesagt – ihn interessiere es viel mehr, wie Athleten den Erfolg verkraften. In diesem Lichte war es schon spannend, als Sydney McLaughlin-Levrone über die ersten Gedanken sprach, die ihr am Donnerstagabend in den Kopf geschossen waren als nun zweimalige Olympiasiegerin über 400 Meter Hürden, diesmal in Weltrekordzeit: „Als ich die Ziellinie überquert habe, war ich dankbar. Ich hatte nur gehofft, dass die Zeit etwas schneller sein würde.“

So ist das wohl, wenn man auf eine Biografie zurückblickt wie die 25-Jährige aus New Brunswick im US-Staat New Jersey: Sie war selbst unter Ausnahmekönnerinnen eine Ausnahme. Als 14-Jährige lief sie die 400 Meter Hürden in 55,63 Sekunden, das hätte ihr nicht nur in diesem Jahr den deutschen Meistertitel bei den Frauen beschert. Vier Jahre später war sie schon bei 52,75 angekommen, der damalige Weltrekord (52,34) rückte bereits in Griffweite. Nur: Während viele Hochbegabte irgendwann auf einem Plateau stranden, kletterte McLaughlin in den Rekordlisten einfach weiter – in Regionen, wo im Bergsteigen die Luft immer dünner wird.

Was der Schöpfer nicht erledigt, legt sie in die Hände ihres Trainers Bob Kersee

2021 bei den US-Trials: 51,90 Sekunden, Weltrekord. Einen Monat später: 51,46 bei den Sommerspielen in Tokio. 2022, Weltmeisterschaften in Eugene: 50,68, eine Zeit, mit der sie Siebte geworden wäre im WM-Finale über 400 Meter – ohne Hürden. In diesem Jahr: Weltrekord bei den US-Trials Ende Juni (50,65), nun 50,37 Sekunden im Olympiafinale. Wenn sie läuft, was gar nicht so häufig geschieht, wackeln die Bestenlisten. Und Gewissheiten.

Für McLaughlin-Levrone ist alles freilich ganz simpel, das erklärte sie auch in Paris. Gott habe sie mit einer Gabe ausgestattet, einem Drang, sich immer weiter zu verbessern. Die Kunststoffbahn sei ihre Plattform, „und die nutze ich, um Gott zu ehren“. Dieser Glaube beeinflusse auch, wie sie durch ihr Leben schreite. Das erklärt vielleicht ihre oft ernste, bisweilen kühle Aura. Zur Extravaganz muss man sie drängen. Die Tiara, die McLaughlin-Levrone in Paris auf ihrer Ehrenrunde trug, hatte ihre Schwägerin mitgebracht. „Sie hatte das angekündigt“, sagte McLaughlin-Levrone, „aber ich dachte, sie macht einen Scherz.“

Und was der Schöpfer nicht erledigt, legt sie in die Hände ihres Trainers: Bob Kersee, der schon tief in der Ära des Anabolika eine gewisse Florence Griffith-Joyner betreute, deren Weltrekorde über 100 und 200 Meter bis heute in der Landschaft stehen wie Fanale. Auch Kersee selbst sah sich einst Vorwürfen ausgesetzt, er habe Athleten gedopt (was er strikt bestreitet). Das alles ist nicht sehr glorreich, für McLaughlin-Levrone aber offenbar kein Problem. Sie glaube auch daran, dass bald die 50-Sekunden-Marke fallen werde, sagte sie in Paris, entweder durch sie oder eine ihrer Konkurrentinnen, die in Paris das Podium mit ihr zierten. Zum einen die Niederländerin Femke Bol, die zweite Frau, die bislang 51 Sekunden unterboten hat, zum anderen die Amerikanerin Anna Cockrell, die in Paris als vierte Frau der Geschichte unter 52 Sekunden blieb (51,87). Bol hatte sich diesmal derart mit dem Anfangstempo übernommen, dass sie bloß Bronze gewann in 52,15.

So wahnwitzig ist das Niveau mittlerweile, dass man überlegen müsse, die Hürden auf der Langstrecke künftig höher zu schrauben, hatte Weltverbandspräsident Sebastian Coe zuletzt gesagt. Sydney McLaughlin-Levrone wird sich auch dieser Aufgabe mit der bewährten Hilfe stellen. „Ich bin mir ziemlich sicher“, sagte sie in Paris, „dass mein Trainer schon ein paar Aufgaben für mich hat.“

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