Leichtathletik bei den Championships:Athleten, die sich nicht unterkriegen lassen

Leichtathletik bei den Championships: Lisa Mayer, Gina Lückenkemper, Alexandra Burghardt und Rebekka Haase (von links) haben für einen goldenen Abschluss der Deutschen bei den European Championships gesorgt.

Lisa Mayer, Gina Lückenkemper, Alexandra Burghardt und Rebekka Haase (von links) haben für einen goldenen Abschluss der Deutschen bei den European Championships gesorgt.

(Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Speerwerfer Julian Weber und die Sprint-Staffel der Frauen stehen mit ihren EM-Gewinnen für Sportler, die zunächst die Schule des Scheiterns besuchen mussten, um Erfolg zu haben.

Von Johannes Knuth

In seinem Tun liegt etwas, das sich schwer greifen lässt, ein Schuss Irrationales. "Ich bin eine Mischung aus allem", hat Julian Weber neulich erzählt, der Zehnkämpfer im Speerwurf gewissermaßen. "Ich bin nicht schwach, ich habe eine gute Technik, eine sehr gute Schulter, ich bin schnell." Und was ihm schon immer wichtig war: das Gefühl. "Speerwurf ist für mich auch etwas Magisches", sagt Weber, "es muss so viel zusammenkommen in diesem ganz kurzen Moment, wenn man beim Abwurf da reinbrettert, alles zusammenpasst." Wenn er sofort spüre, dass es den Speer gleich weit trägt, "von diesem Feeling", sagt Weber, "lebe ich auch".

Nun sollte man mit metaphysischen Erklärungen im Spitzensport eher vorsichtig sein, andererseits: Wenn es an einem nicht mangelte am Sonntagabend im Münchner Olympiastadion, dann waren es Emotionen und das Gefühl, mit dem Julian Weber, 27, vom USC Mainz seinen Speer auf eine 87,66 Meter lange Reise schickte, zum Europameistertitel.

So rückte dieser Schlusstag der Leichtathletik-Europameisterschaften auch noch einmal eine Handvoll deutsche Athleten ins Licht, die eine Meisterschaft daraus gemacht haben, sich nicht unterkriegen zu lassen. Die 4x100-Meter-Sprintstaffel der Frauen schnappte sich in 42,34 Sekunden jenen Hauptpreis, der ihr auf europäischer Ebene einige Jahre verwehrt geblieben war. Und Weber, der stand später vor den Reportern, und sagte: "Ich bin Europameister. Ich habe die Medaille, die ich seit Jahren gejagt habe." Er bilanzierte: "Ich werde lange Zeit brauchen, um zu verstehen, was hier passiert ist."

Das Publikum habe ihm einfach alle schweren Gedanken aus dem Kopf gepustet, sagt Weber

Eine erste, kleine Erklärungshilfe: Bei ersten Meisterschaften geht's selten glatt mit den Medaillen. Auch Weber schritt lange durch Schmerzensjahre, mit drei Fußoperationen, unter anderem. Er zog von Mainz nach Rostock, von Rostock nach Potsdam, zur Trainingsgruppe von Burkard Looks. Er wisse mittlerweile, wie er seinen Körper halbwegs gesund halte, sagte er zuletzt. Spätestens in diesem Jahr rückte er in die erste Reihe der deutschen Speerwerfer, was auch diversen Krankmeldungen (Johannes Vetter) und Formtiefs (Andreas Hofmann, Thomas Röhler) geschuldet ist - aber an sich, findet Weber, sei es schön, in eine solch privilegierte Rolle zu schlüpfen. Und doch musste er zuletzt ein letztes Mal die Schule des knappen Scheiterns besuchen, ehe sich alles fügte.

In Eugene ließ er sich noch davon irritieren, dass das Etikett der Medaillenhoffnung an ihm baumelte, eine von wenigen in einem schlingernden deutschen Team. Diesmal meisterte er den Wettkampf vor dem Wettkampf. Er sprach offen über seine Medaillenwünsche, sah, wie sein Vereinskollege Niklas Kaul zu Wochenbeginn Zehnkampf-Gold gewann, saugte sich voll mit Vorfreude, war auch an seinem Tag "so im Tunnel", obwohl er "echt Schmerzen" verspürte und aufs Einwerfen verzichtete. Eine gewinnbringende Idee: Dass er die 87,28 Meter des Tschechen Jakub Vadlejch, in Eugene noch WM-Dritter vor Weber, nun im vierten Versuch konterte, "hätte ich nicht gedacht", sagte Weber. Das Publikum habe ihm einfach alle schweren Gedanken aus dem Kopf gepustet. Er hatte später sogar Kraft für historische Verweise: Im Olympiastadion mit dem Speer zu gewinnen, 50 Jahre nach Klaus Wolfermanns Olympiasieg, das sei natürlich "eine große Ehre".

Leichtathletik bei den Championships: Julian Weber warf den Speer auf 87,66 Meter.

Julian Weber warf den Speer auf 87,66 Meter.

(Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Es passte in gewisser Weise, dass es kurz darauf die Frauen-Staffel war, die den letzten goldenen Tusch dieser EM erklingen ließ, und nicht ihre hochbegabten männlichen Kollegen, die den ersten Wechsel - wie in Eugene - verdaddelten. Alexandra Burghardt, 28, Lisa Mayer, 26, Gina Lückenkemper, 25, und Rebekka Haase, 29, mussten auch erst ihren eigenen Lebenslauf sprinten, ehe in diesem Jahr alles zusammenkam, mit WM-Bronze und EM-Gold. Vor allem Haase, Mayer und Burghardt waren oft verletzt gewesen.

Haase hatte zuletzt berichtet, dass sie nach den Tokio-Spielen für Monate in eine Depression gerutscht und schon zu schwach war, sich um die Wäsche zu kümmern. Burghardt wiederum hatte Malaisen oft nicht richtig auskuriert, weil sie ihren Platz in der Staffel nicht verlieren wollte, nur von ihrem Verein in Burghausen und der Familie noch richtig gefördert wurde. Sie fand erst im Corona-Jahr 2020 und mit neuem Trainer zu alter Kraft. "Hätte ich letzte Saison nicht die starke Saison gehabt, die ich hatte, würde ich dieses Jahr nicht mehr hier stehen", sagte sie vor der EM.

Hat die EM die historisch schwache WM-Ausbeute von Eugene ausgehebelt?

Das sei ja wirklich hochspannend, hatte Haase im Vorbereitungscamp in Erding zuletzt berichtet: In Eugene habe man die Staffel- und Ersatzläuferinnen selten zusammen gesehen, abseits der Bahn. Aber das spreche gerade für eine spezielle Gemeinschaft, die in den vergangenen sechs, sieben Jahren gewachsen sei: "Jeder hat seine Eigenheiten, seinen eigenen Lifestyle. Aber wir genießen das: dass wir so unterschiedlich sind. Wir wissen, dass wir auch so funktionieren."

Dieses "Urvertrauen" fließe wiederum auf die Bahn: Sie wisse genau, sagte Haase, wann und wie sie loslaufen müsse, wenn Lückenkemper auf sie zurase, ohne Kommandos, sodass der Stab in ihre Hände gleitet. So tief wurzelt die Routine, dass auch Lisa Mayer (in Vor- und Endlauf) und Jessica Bianca-Wessolly (im Vorlauf) problemlos in die Auswahl glitten, als Tatjana Pinto ausfiel und Gina Lückenkemper erst für den Endlauf wieder fit war.

Leichtathletik bei den Championships: Mit den Leistungen von München hätten die Deutschen bei der WM nur eine Medaille gewonnen, durch Malaika Mihambo.

Mit den Leistungen von München hätten die Deutschen bei der WM nur eine Medaille gewonnen, durch Malaika Mihambo.

(Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Und jetzt? Nach 16 Medaillen, darunter sieben goldenen, Platz eins im EM-Medaillenspiegel? Hatte dies die historisch schwache WM-Ausbeute von Eugene ausgehebelt, die zwei Medaillen samt sparsamer Finalpräsenz? Nun, die Chancenverwertung der Topleister war zweifellos gut, ein paar Athleten kamen deutlich näher an ihre Bestleistungen heran. Viele aus dem knapp 120 Athleten großen Team aber halt auch nicht, darunter auch erfahrene Kräfte. Und zur ganzen Wahrheit gehört: Mit den nackten Leistungen von München hätten sie in Eugene sogar nur eine Medaille gewonnen, durch Malaika Mihambo. Die Zeit der Gold-Staffel hätte bei der WM für Platz vier gereicht.

Klar, würde mancher jetzt anmerken, nicht nur im deutschen Verband: Anderes Umfeld, andere Wettkämpfe. Anderer Luftdruck. Weichere Matratzen. Solche Sachen. Tatsächlich, sagte der einstige Zehnkämpfer und heutige ARD-Experte Frank Busemann zuletzt der Zeit, sei es eher so: "Die EM-Medaillen vernebeln den Blick." Auf Missstände im Verband, ein wenig auch darauf, dass die Deutschen die besten eines Kontinents sind, der in der Welt-Leichtathletik immer mehr an den Rand gedrängt wird. Wie hatte DLV-Cheftrainerin Annett Stein in Eugene noch gesagt: Es sei "nicht alles gut, wenn es bei der EM gut läuft". Trotz aller Athleten, die sich partout nicht hatten unterkriegen lassen, bis zuletzt.

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MeinungKommentar
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