Hätte man die vergangene Saison in ein paar Gesichter schnitzen wollen, sie hätten wohl ungefähr so ausgesehen wie jene, die dem Hochspringer Tobias Potye im vergangenen Juli entgegenblickten. Drei Wochen vor den Olympischen Spielen in Paris war er in seine Münchner Arztpraxis gehumpelt. „Das hätte man sehen müssen“, erinnert sich der 29-Jährige an all die bedröppelten Mienen. „Für die war das ja auch frustrierend.“
Es ist Mitte Januar, Tobias Potye blickt zurück auf ein „bitteres Jahr“, und so wirklich weiß er selbst nicht, was das neue für ihn bereithalten wird. Gerade probiert er, nicht nur in Turnschuhen, sondern auch wieder in Spikes zu springen, erzählt er. Es wäre fürchterlich praktisch, wenn er das hinbekäme, weil er eine kleine Hallensaison geplant hat, beginnend mit einem Gold-Meeting an diesem Wochenende in Astana, Kasachstan. Aber Potye hat längst gelernt, alles so zu nehmen, wie es kommt, oft genug hat ihm sein anfälliger Athletenkörper gar keine andere Wahl gelassen. Aktuell hat er immerhin zwei kleine Gewissheiten: dass er seine Leichtathletik-Karriere auch im neuen Jahr fortsetzen wird, was gar nicht so selbstverständlich war; und dass er das nicht mehr im Trikot der LG Stadtwerke München tut. Denn die hat er nach neun Jahren verlassen.
„Aufhören stand nicht direkt im Raum“, erläutert Potye seine Gedanken nach Olympia, „aber es ist schon zermürbend, wenn man immer wieder gegen solche Probleme ankämpft.“ Schon der Weg zu seinem bislang größten Erfolg, Silber bei den Europameisterschaften von München vor zweieinhalb Jahren, war ja ein ständiges Auf und Ab gewesen, was ihm bei den anschließenden Interviews in den Katakomben des Olympiastadions wenigstens ein herrliches Bonmot ermöglichte. Nachdem er der Reportertraube aus aller Welt erklärt hatte, dass er umständehalber seit Jahren kein Techniktraining absolvieren könne, fügte er an: „Mein Körper mag quasi keinen Leistungssport.“
2024 lief alles noch etwas ungünstiger. Potye hatte lange gebraucht, um nach einem kleinen Eingriff im Knie überhaupt einen vernünftigen Vorbereitungswettkampf auf Paris hinzubekommen, dann gelangen ihm endlich 2,29 Meter bei einem Wettkampf in Heilbronn – wo ihm mitten in die Euphorie hinein die Plantarfaszie unter dem Fuß einriss. Er trat dann zwar noch an in Paris, scheiterte jedoch dreimal an der Einstiegshöhe von 2,15 Meter und sagt im Rückblick: „Auch wenn ich dort ein langes Gesicht gemacht hab’: Ich bin froh, Paris erreicht zu haben.“
„Er hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt“, sagt der LG-Vorsitzende Jacob Minah, der die Abläufe „höchst unerfreulich“ nennt
Vor Tokio 2021 hatte er es nur bis zur Einkleidung geschafft, dann war er noch aus dem Kader gefallen. Nun steht bei Google „Olympiasportler“ hinter seinem Namen. Trotz allem habe ihn der Entschluss, dass es das noch nicht gewesen sein soll, Überwindung gekostet, gibt er zu; sich also ein weiteres Mal auf all das einzulassen, was der Leistungssport seinem Körper abverlangt. Wieso er das nun für das Kölner Franchise Cologne Athletics tut statt für den Vereinsverbund der LG Stadtwerke, das ist eine andere Geschichte.
„Es gab keinen Streit und kein Auseinanderleben“, versichert Potye, „höchstens eine kleine Misskommunikation“ seinerseits, die er im Nachhinein bedauert. Denn er hatte den Wechsel festgezurrt, ohne die LG vorab von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen, und sich danach auch öffentlich lange nicht erklärt. „Er hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt“, sagt der LG-Vorsitzende Jacob Minah, der diese Abläufe „höchst unerfreulich“ nennt. Inzwischen gab es eine Aussprache, doch eine Chance, den Athleten umzustimmen, gab es damals eben nicht.

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Die Hintergründe des Wechsels haben indirekt auch mit Potyes vielen Blessuren zu tun. Die LG Stadtwerke hat kürzlich neue Förderrichtlinien aufgestellt, die transparenter und gerechter sein sollen, wie Minah betont. Potye findet sie aus genau diesen Gründen begrüßenswert, diese Transparenz hätten sich die Athleten immer gewünscht. Einige Aspekte nennt er sogar „ziemlich genial“. Da aber ein nicht unbeträchtlicher Teil der Förderung künftig am Abschneiden bei großen Wettkämpfen hängt, etwa am Erreichen eines deutschen Meistertitels, Potye aber im Besitz gleich mehrerer Sehnen und Gelenke ist, die solche Titel jederzeit verhindern können, war ihm das für die weitere Karriereplanung zu riskant. „Ich wollte Sicherheit“, erklärt er, von irgendetwas müsse er ja leben; und: „Was ich nicht wollte, war eine Extrawurst im neuen System.“ Offenbar hat ihm das neue Franchise in Köln mehr Sicherheit geboten.
Dabei wollte und will Potye München gar nicht verlassen, im Gegenteil, er finde es wichtig, in der Heimat zu sein, betont er. Nur war es dem ehemaligen Hammerwerfer Claus Dethloff, 56, der unter seinem Label „Germany Athletics“ die gesamte deutsche Leichtathletik umkrempeln und mit einem neuen Ansatz nach vorn bringen möchte, nicht wie gehofft gelungen, nach den Standorten Köln, Düsseldorf, Ostwestfalen-Lippe und Frankfurt auch in München schon für diese Saison einen Ableger zu installieren. Der soll nun 2026 folgen, ebenso wie Leipzig und später wohl auch Berlin und Hamburg. Potye plant also, in einem Jahr für Munich Athletics zu starten. Bis dahin tritt er für Köln an, trainiert aber weiterhin in München.
Der LG Stadtwerke droht dann eine völlig neue Konkurrenz. Mit den neuen Förderrichtlinien waren durchaus auch Einsparungen verbunden, erläutert Minah, die Kosten stiegen eben gerade in München ständig, und es sei nicht gelungen, das durch weitere Sponsoren zu kompensieren. Auch hinter seiner Hoffnung, mit einer Übernahme des München-Marathons die dringend benötigten Zusatzeinnahmen zu erwirtschaften, steht ein Fragezeichen: Noch immer hat das Kreisverwaltungsreferat keinem von drei Bewerbern um die Ausrichtung für 2025 und 2026 einen Zuschlag erteilt.
Und so gibt die LG Stadtwerke gerade ein schwer zu deutendes Bild ab: Im neuen Vereinsranking, für das der Deutsche Leichtathletik-Verband alljährlich seine Bestenlisten auswertet, jubeln die Münchner über Rang zwei hinter Branchenprimus Leverkusen. Andererseits stehen Minahs Ziel, Athleten aus der Region an die Spitze zu verhelfen, wachsende finanzielle Unwägbarkeiten entgegen. Und während sie sich über Zugänge wie Merlin Hummel aus Kulmbach freuen, den Paris-Finalisten im Hammerwurf, müssen sie gleichzeitig nicht etwa nur Potye als Weggang verkraften. Dessen Trainingspartnerin Lavinja Jürgens startet künftig für Frankfurt Athletics, und in Yannick Wolf hat sich auch der erfolgreichste LG-Sprinter zu Cologne Athletics verabschiedet. Mit dem Karriereende der Läuferinnen Katharina Trost ein Jahr vor und Christina Hering kurz nach den (verpassten) Olympischen Spielen hat die LG also einen Großteil ihrer bislang profiliertesten Topathletinnen und -athleten verloren. Sie steht nun selbst vor einem ähnlichen Neustart wie Tobias Potye.
Dem ist es zumindest rechtzeitig vor dem Abflug nach Astana gelungen, mit Spikes zu springen.