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Leichtathletik:Letzte Ausfahrt Rollfeld

Auch die Marathonläufer sind von der Corona-Pandemie hart getroffen. Richard Ringer unterbietet aber sogar auf einem windigen Flughafen in 2:08:49 Stunden die Olympianorm - schneller waren überhaupt erst drei Deutsche.

Von Johannes Knuth, Siena/München

Marathon oder Zombie-Apokalypse? Zumindest aus der Ferne betrachtet wirkte die Szenerie recht gruselig, am Sonntag auf dem Aeroporto di Siena. Ein fünf Kilometer langer Rundkurs schlängelte sich über nassen Beton, auf dem sich für gewöhnlich Flugzeuge auf die Startbahn schieben, über einen welligen Pfad, durch Schleier von Wolken und Wind und an einem Stacheldrahtzaun entlang, der sich auch prächtig rund um eine Justizvollzugsanstalt gemacht hätte.

Wer hätte das vor rund einem Jahr gedacht: dass sich ein paar der weltbesten Marathonläufer auf einem fast leeren Regionalflughafen in der Toskana um die letzten Fahrscheine für die Sommerspiele in Tokio zanken würden? Und dass Richard Ringer vom LC Rehlingen dabei die viertschnellste je erzielte deutsche Marathonzeit erschaffen würde, in 2:08:49 Stunden? Letzte Ausfahrt Flughafenrollfeld?

Während die Qualifikationswettkämpfe in der Stadionleichtathletik bald anrollen sollen, befinden sich die Marathonprofis auf ihrem Weg nach Japan bereits auf der Zielgeraden. Dabei waren die Straßenläufe mit ihren großen, bunten Starterfeldern zuletzt fast alle weggebrochen, und mit ihnen die Bühne für die Profis, samt süßer Beigaben wie Antrittsgelder und Prämien. Veranstalter und Manager hatten immer wieder kleine Zusammenkünfte organisiert, auf abgeschotteten Rundkursen, vor drei Wochen etwa in Dresden. Dort hatte sich der Regensburger Simon Boch (2:10:48) vorerst an die dritte Stelle im deutschen Tokio-Ranking geschoben, hinter Amanal Petros (2:07:18), Hendrik Pfeiffer (2:10:48) - und zehn Sekunden vor Ringer.

Ringer und auch Arne Gabius, der einstige deutsche Rekordhalter, hatten aber noch den Marathon in Hamburg in der Hinterhand. Dort wollten sie am Wochenende wieder auf einen der drei deutschen Tokio-Plätze rücken. Vor einer Woche dann die Absage: Der Rundkurs durch die Stadt erhielt keine Freigabe, wegen Corona, die Veranstalter wichen ins niederländische Enschede aus, für den kommenden Sonntag. Nur: Gabius arbeitet mittlerweile als Assistenzarzt in Stuttgart, er war für den 18. April fest im Schichtdienst eingeplant. Und Ringer hatte alles auf den 11. April ausgerichtet, wie er dem Portal leichtathletik.de erzählte. Er begab sich also am Donnerstag auf eine zweitägige Reise nach Siena - auf eigene Kosten, wie fast alle Läufer derzeit.

Am Sonntagmorgen rauschte die Motivation dann kurz in den Keller. Der als hochklassig beworbene Kurs in der Toskana erwies sich, nun ja, als Herausforderung: "Höllisch windig und eiskalt", vermeldete Nada Ina Pauer, Ringers Freundin und selbst Langstreckenläuferin, in den sozialen Medien vom Rollfeld. Hier sollte ein Traum, der über Jahre gewachsen war, zur Vollendung reifen?

Arne Gabius muss seinen letzten Traum von Olympischen Spielen schon nach zwölf Kilometern begraben

Ringer war in den vergangenen Jahren einer der besten Deutschen auf der Bahn, 2016 EM-Dritter über 5000 Meter, Bestzeit: 13:10,94 Minuten. Nach Jahren des behutsamen Aufbaus sollte es in Tokio mit den ersten Olympischen Spielen klappen; und als das Event im Vorjahr auf diesen Sommer verlegt wurde, zogen er und sein Trainer Wolfgang Heinig den Umzug auf die Marathondistanz kurzerhand vor. Das Debüt im vergangenen Dezember in Valencia war ordentlich (2:10:59), die 61:33 Minuten auf halber Strecke in Dresden zuletzt noch vielversprechender. Und in Siena würde Ringer erstmals in einem neuen Modell seines Ausrüsters laufen, mit jener Karbonfeder-Technologie, die viele Beobachter für die Flut an Bestzeiten im Straßenlauf mitverantwortlich machen.

Ringer kann das jedenfalls: dem langen Atem vertrauen, selbst als Novize auf der Langstrecke. Anders als Gabius, der in Siena nach zwölf Kilometern aufgab - die Karriere des 40-Jährigen wird demnächst ohne olympischen Marathon zu Ende gehen -, hielt sich der 32-Jährige im Rennen. Obwohl er die letzten zehn Kilometer, auf denen auch Profis das Rennen oft noch entgleitet, weitgehend alleine im Wind lief. Aber er hatte sich die Kräfte besser eingeteilt als in Valencia, die erste Hälfte spulte er in 1:05:10 Stunden ab, die zweite in 1:03:39, eine fast perfekte Energiebilanz. "Es war echt ein besonders guter Wettkampf", sagte Ringer im Ziel, und das war echt noch untertrieben. Nur seine Landsmänner Petros, Gabius (2:08:33) und Jörg Peters (2:08:47) waren je schneller gewesen.

Global betrachtet ist das ja fraglich: Wie aussagekräftig solche Qualifikationshatzen sind in Zeiten, in denen viele Olympia-Bewerber nicht mal einen Startplatz auf einem Flughafenvorplatz ergattern. Aber das dürfte Ringer erst mal egal sein. Er wird in Tokio ziemlich sicher dem deutschen Marathon-Aufgebot angehören, als Zweitschnellster hinter Petros, allein der Rostocker Tom Gröschel könnte in Enschede wohl noch nachrücken. Der Wettstreit auf der deutschen Langstrecke hat zuletzt spürbar zugenommen, Insider schreiben das aber nicht nur neuen Schuh-Technologien zu, sondern auch den längeren Qualifikationszeiträumen - so könnten mehrere Läufer ihre Auftritte besser planen. Bei den Frauen sind Melat Kejeta (2:23:57), Deborah Schöneborn (2:26:55) und Katharina Steinruck (2:27:26) bislang für Tokio qualifiziert, auch hier könnte es in Enschede noch zu Verschiebungen kommen.

Dann übrigens wieder auf einem Flughafen-Rundkurs.

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