Wenn Jannik Engel heute in Gedanken rund zehn Jahre zurückspult, wirkt alles klar und noch immer rätselhaft zugleich. Er erinnert sich, wie ihm, einem Leichtathletiktrainer von 23 Jahren, der an den Schulen im Kölner Raum nach Talenten suchte, dieses 14-jährige „Energiebündel“ auffiel. Ein Schlaks, der nicht der Schnellste oder Stärkste war, dafür etwas mit sich führte, das sich nicht in Zeiten und Kraftwerten aufwiegen ließ: Wie er über den Boden federte, leicht, elegant, das hatte etwas, das dem Trainer rasch eine Vorstellung in den Kopf pflanzte, von Größerem. Noch heute, sagt Engel, sei er „ein bisschen überrascht davon, was ich ihm damals aufgezeigt habe, wohin die Reise gehen könnte“.
Die deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Braunschweig am Wochenende sind der letzte große Stimmungstest vor Olympia, und schon jetzt zeichnet sich ein ähnliches Wechselbad ab wie zuletzt bei der EM in Rom: mit guten Leistungen, aber auch mit Verletzungssorgen und Ausfällen wie Malaika Mihambo (Corona) und Konstanze Klosterhalfen (Infekt). Und mit einem, dessen Reise ihn vom 14-jährigen Energiebündel zu einer der größten deutschen Hoffnungen im Sprint getragen hat: Joshua Hartmann, ASV Köln, 25 Jahre.
Langfristig könnte sich Hartmann noch mal den 400 Metern widmen
Die Zahlen sehen auch in diesem Jahr wieder sehr gut aus: 10,06 Sekunden über 100 Meter, deutsche Jahresbestzeit und fünf Hundertstelsekunden über Julian Reus’ deutschen Rekord. Dazu 20,36 Sekunden über 200 Meter, die er im vergangenen Jahr bei den nationalen Titelkämpfen in deutscher Rekordzeit lief (20,02). Dass Hartmann die 100 Meter in unter zehn und die 200 in unter 20 Sekunden laufen kann, als erster Deutscher, daran zweifelt kein Sachverständiger. Hätte er bei seinem Rekordlauf über die 200 Meter nicht zu früh gejubelt, stünde wohl schon eine 19 vor dem Komma.
Neben starken Zeiten und Platz fünf bei der EM vor zwei Jahren über 200 Meter ragen bisher aber auch die vergebenen Chancen heraus. Verpatzte Staffelwechsel bei Großanlässen. Der 200 Meter-Vorlauf bei der WM vor einem Jahr, als Hartmann früh austrudelte, das Halbfinale verpasste. Zuletzt das EM-Finale in Rom, als er als Mitfavorit zu früh aus dem Block kippte, Fehlstart. „Ich werde aufstehen und stärker zurückkommen“, das gab Hartmann zuletzt häufiger von sich, als ihm lieb sein dürfte.
Klar, sagt sein Trainer, das lasse sich jetzt leicht zu einem Leitmotiv verknüpfen: „Nervenversagen“, der packt es nicht, wenn es zählt. Gewiss habe sich Hartmann „relevante Fehler“ geleistet, aus denen man lerne. Allerdings sei das Ganze „wie so häufig deutlich differenzierter zu betrachten“, gehörten Wechselfehler und Fehlstarts nun mal zum Sport. Und dass der Trainer um Geduld wirbt, darf man ihm nachsehen. Denn mit Geduld, entgegen mancher Fremdmeinung, ist Engel bislang noch immer ganz gut gefahren.
Gerade zu Beginn, als junger Trainer, musste er sich schon mal anhören, was bei Hartmann angeblich falsch laufe: Warum ist der immer noch so schmächtig? Warum trainiert der so wenig, wo er doch zum 400-Meter-Läufer ausgebildet werden soll? Aber Engel wusste, dass Hartmann noch nicht allzu viele Reize vertrug, und das Ziel war immer, das Können bei den Großen erblühen zu lassen, nicht in den Jugendklassen, in denen deutsche Talente gerne überpacen. Engel glaubte jedenfalls an Hartmanns Begabung für die Stadionrunde, mit dem energiesparenden, eleganten Schritt und einer Sprintstärke, die umso besser zur Geltung kommt, je länger die Strecke ist. „Ich schließe auch nicht aus, dass wir uns langfristig noch mal der Stadionrunde nähern werden“, sagt Engel.
Man müsse Rennen suchen, die unkomfortabel für Hartmann sind, sagt sein Trainer
Seine 400-Meter-Schule hatte nur einen, nun ja, Haken: Da Engel viel auf kürzere Läufe setzt, zeigte Hartmann auch dort früh seine Begabung, sprintete die 100 Meter als 20-Jähriger in 10,16 Sekunden. Und weil im prestigeträchtigen Kurzsprint damals viele Talente reiften, die heute das Rückgrat der Nationalstaffel bilden, Förderungen und Erfolge über die Staffel zudem leichter fallen, verschrieb sich Hartmann fürs Erste den kurzen Distanzen.
Schon da erhielt er rasch eine Einführung in die Grundlagen der Wettkampfpsychologie. Rannte er in Weinheim noch unbeschwert zu 10,16 Sekunden, wurde er als Mitfavorit bei der U23-EM fest in Kopf und Muskeln, kam nach 10,98 ins Ziel. Um diese „Souveränität mit der Wettkampfsituation“ zu schulen, hospitierten Engel und Hartmann etwa in der Trainingsgruppe von Noah Lyles und Gina Lückenkemper in Florida. Dort hielt Hartmann rasch mit Sprintern mit, die die zehn respektive 20 Sekunden regelmäßig unterbieten: „Das hat bei Joshua so eine Schranke gelöst“, sagt Engel. Hartmann ergatterte im vergangenen Jahr auch immer wieder Startplätze in den schnellen Feldern der Diamond League, er überzeugte, qualifizierte sich über 100 Meter gar für das Finale in Eugene (Platz sieben/10,30 Sekunden).
Diese Rennen, sagt Engel, hatten nur meist eines gemeinsam: Hartmann war Außenseiter. Bei der EM in Rom waren die Erwartungen wieder größer, der Drang, es besonders gut zu machen, offenbar auch. Man müsse künftig also „genau die Situationen suchen, die am unkomfortabelsten für ihn sind“, sagt Jannik Engel – wie in Braunschweig, wenn Hartmann über 200 und 100 Meter starten will, als Favorit. „Nur in diesen Situationen“, sagt Engel, „kann man wachsen.“ Sein Kalkül ist dasselbe wie damals: Der lange Atem zählt. Auf sein Stehvermögen konnte sich Joshua Hartmann bislang jedenfalls verlassen.