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Potas-Analyse:Bestnoten für die Enttäuschten

Das Beispiel der stark bewerteten Leichtathleten im Potas-Ranking legt die Schwächen des Systems nahe: Wie es um aktuellen und künftigen Erfolg im Sport bestellt ist, darüber gehen Meinungen weit auseinander.

Kommentar von Johannes Knuth

Vor etwas mehr als einem Monat, da war die Stimmung bei den deutschen Leichtathleten noch recht sparsam temperiert. Drei Medaillen hatten sie bei den Sommerspielen in Tokio gewonnen, so viele wie bei den auch eher sparsam verlaufenen Spielen fünf Jahre zuvor in Rio.

Ein paar Athleten hatten überzeugt, das Gros hatte seine Saisonbestleistungen verfehlt und die Endkämpfe oft dazu. Der Kübel an Spott, der sich beizeiten über die Verantwortlichen entleerte, wirkte überzogen, aber als die Chef-Bundestrainerin Annett Stein zuletzt erneut das schlechte Abschneiden verteidigen musste, räumte sie ein: "Wir hatten uns mehr erwartet und werden für das kommende Jahr Konsequenzen ziehen."

In diesem Lichte wirkt es, nun ja, spannend, was die sogenannte Potenzialanalyse (Potas) jetzt gehoben hat: Der Verband, der in Tokio so viele Enttäuschungen verantwortete, sei für künftige Erfolge am besten von allen 26 Sommersportverbänden gerüstet - und hat sich damit einen ordentlichen finanziellen Zuwachs verdient. Und das muss sich im Grunde gar nicht ausschließen, das war ja ein Ziel des großen Umbaus im deutschen Hochleistungsbetrieb: dass nicht stumpf denjenigen mehr Geld gegeben wird, die ohnehin schon gut sind, sondern auch und vor allem denen, die ihre beste Zeit erst vor sich haben.

Der einstige Cheftrainer der Leichtathleten sieht einen "totalen Absturz" beim Potas-Spitzenreiter

Umso spannender wirkt es da freilich, wenn Jürgen Mallow, der ehemalige Cheftrainer der deutschen Leichtathleten, in der FAZ zuletzt einen bemerkenswerten Schadensbericht vorlegte, der weder für den Erfolg im Jetzt noch für die Zukunft ein rosiges Bild zeichnete - für zwei der drei Fundamente also, auf denen auch die neuen Potas-Formeln fußen.

Die deutsche Leichtathletik, so Mallow, sei von starren Strukturen und mangelnder Aufbruchstimmung geprägt, sie stecke im interkontinentalen Vergleich seit Jahren im Abwärtsstrudel, in Tokio erfolgte "ein totaler Absturz". Er machte das vor allem an den Endkampfeinzügen fest, die in Tokio noch dürftiger ausfielen als 2008 in Peking, als der DLV nur eine Medaille gewann. Der Verband konterte das vor allem mit fehlender Tagesform und Pech, in der Auswahl stecke mehr Potenzial. Das stimmte einerseits - allerdings hatten die Auftritte vor den Spielen auch nicht gerade ein massiv besseres Abschneiden vermuten lassen.

Und die Zukunft? Mallow tadelte, dass viele Bundestrainer zu unerfahren, zu schlecht betreut und/oder mangelhaft qualifiziert seien; dass viele noch immer nach dem Prinzip "immer mehr und immer härter" trainierten, was viele Krankenstände erklären könnte. Andere kundige Beobachter wundern sich schon seit Jahren über ausdünnende Startfelder im Nachwuchs und Athleten in Perspektivkadern, deren Vorleistungen für die Zukunft nicht nur Großes versprechen.

Der DLV hielt zuletzt dagegen, dass man viele Schwachstellen bereits angegangen habe, dass man jungen Trainern mehr Zeit geben müsse und dass man Erfolg im Sport sowieso nie linear berechnen könne. Unabhängig davon, wo die Wahrheit verortet ist: Das Material, mit dem die Potas-Fragebögen gefüttert werden, stellen nicht ehemalige Cheftrainer und externe Kritiker bereit, sondern die aktuellen Verantwortlichen.

Da drängt sich dann schon die Frage auf, über was dieses neue Ranking eigentlich mehr aussagt: Über die Potenziale von Sportarten - oder das Ranking und seine Kriterien an sich?

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