Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Knapp unter den Wolken

Von der Absage über einen kleinen Wettkampf bis zum nationalen Stelldichein: Das diesjährige Stabhochsprung-Treffen "Touch the Clouds" zeigt, wie der Sport allmählich zur Normalität zurückfindet.

Von Andreas Liebmann

Der Kran fehlt. Er war stets das weithin sichtbare Zeichen dafür, wie hoch das "Touch the Clouds" hinaus wollte, das Stabhochsprung-Festival des TSV Gräfelfing vor den Toren Münchens. Nicht nur bis auf jene 195 bis 205 Zentimeter Körperlänge, denen (je nach Quellenlage) der gleichnamige Sioux-Häuptling "Touch the Clouds" angeblich seinen Namen verdankte - und der bei der Taufe der Veranstaltung eher versehentlich zu einer Art Namenspatron wurde. Sogar höher als die 5,55 Meter, die hier im Jahr 2016 der Schweizer Dominik Alberto überwand, was seitdem der gültige Festival-Rekord ist. Vielleicht sogar höher als jene schwindelerregenden 55 Meter, in die dieser Kran des Vereinssponsors Jahr für Jahr in einem Korb all jene Zuschauer nach oben hievte, die an einem solchen Ausblick Interesse hatten. Bis zu den Wolken eben. In diesem Jahr symbolisiert sein Fehlen, dass immer noch alles etwas anders ist.

Das große Festival, das 2019 zu seinem bisherigen Höhepunkt angewachsen war und dann 2020 wegen der Pandemie komplett ausfiel, hatten die Veranstalter vor geraumer Zeit auch für dieses Jahr abgesagt - stattdessen aber einen kleineren Wettkampf anberaumt. "Das, was Corona übrig gelassen hat", so sagt es der Cheforganisator Matthias Schimmelpfennig, der hier Landesstützpunkt- und Vereinstrainer zugleich ist. Andererseits: Das Wenige ist in den vergangenen Tagen dann doch wieder rasant zu etwas deutlich Größerem angewachsen.

Das internationale Flair bleibt diesmal an einem Italiener hängen

Aus einem Treffen von Landeskaderathleten, "zwei Tage, ganz entspannt, ohne Zuschauer", war vor vier Wochen eines geworden, zu dem auch die Kaderspringer der anderen Länder kommen durften; vor zwei Wochen war es dann überhaupt für jeden offen; dann auch noch für 250 Zuschauer. Theoretisch wären brandaktuell sogar 500 erlaubt. Ohne Test-, vielleicht sogar nur mit eingeschränkter Maskenpflicht - "das werden wir noch rausfinden". Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat den Wettkampf obendrein kurzfristig zur Lehrgangsmaßnahme erklärt. Vor allem für den Nachwuchs geht es um einiges. Noch sind dessen Großveranstaltungen, die U-20-Weltmeisterschaften in Nairobi (17. August) und die Europameisterschaften der Altersklassen U23 (8. bis 17. Juli) und U20 (15. bis 18. Juli), beide in Tallin, nicht abgesagt, noch können sich alle qualifizieren. Nach den vergangenen Wettkampfwochenenden werde Gräfelfing "eine Art Showdown", sagt Schimmelpfennig, eine gute Gelegenheit, der Konkurrenz noch mal eine Spitzenhöhe "vor den Latz zu knallen", ehe der Verband dann seine Auswahl trifft.

"Wir organisieren jetzt seit eineinhalb Wochen und versuchen alles, was auf die Schnelle möglich ist", schildert der 40-Jährige. Ohne Kran, wie gesagt, ohne die große Show, ohne zusätzliche Sponsoren und deshalb auch ohne internationale Topfelder wie in den Vorjahren. Vielleicht wäre selbst hier kurzfristig noch ein bisschen mehr möglich gewesen, "aber ich denke, wer seine Mitarbeiter gerade im Home-Office oder in Kurzarbeit hat, hat andere Sorgen, als einen Wettkampf zu unterstützen", schätzt der Trainer. Und so bleibt das internationale Flair bei 100 Teilnehmern einzig an Dario Gonfiantini hängen, einem Springer aus Italien, der allerdings in Gräfelfing trainiert.

Das nationale Teilnehmerfeld kann sich an den beiden Tagen trotzdem sehen lassen. Die Mannheimerin Jacqueline Otchere wird starten, "das Zugpferd", wie Schimmelpfennig sagt. Die 24-Jährige ist vor einer Woche in Braunschweig erstmals deutsche Meisterin geworden. Dazu genügte ihr bei der verletzungsbedingten Abwesenheit einiger Konkurrentinnen ein Sprung über 4,30 Meter. Mit 4,45 Meter führt sie die deutsche Jahresbestenliste an. Herausgefordert wird sie von einem Potsdamer Trio (Leni Freyja Wildgrube, Moana-Lou Kleiner, Ella Buchner). Das Topfeld der Männer führt der Dortmunder Constantin Rutsch an, mit einer persönlichen Bestleistung von 5,20 Meter. Als bester Bayer ist Noah Kollhuber (4,91 Meter) vom TSV Schleißheim gemeldet.

Die Athleten des Gastgebers sind in Lauerstellung, werden es vermutlich aber schwer haben. Nicht nur weil einige von ihnen fehlen, sondern weil alle gefordert sein werden, sich an der Organisation zu beteiligen. Auch das, was Corona übrig ließ, ist ja nun eine ganze Menge, und wegen der Kurzfristigkeit mangelt es an Helfern. Der Neu-Gräfelfinger Finn Waigand (4,61 Meter), Simon Krumpholz (4,51) oder Chiara Sistermann (4,15) - sie alle müssten für die Veranstaltung "ranklotzen", wie Schimmelpfennig sagt, das sind keine idealen Voraussetzungen, um dann selbst noch Bestleistungen abzuliefern. "Aber sie machen das trotzdem gerne", versichert er. "Alle sind froh, dass überhaupt wieder so etwas stattfindet." Es ist, auch ohne Kran, wieder "ein Schritt in Richtung Normalität".

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