Der Begriff "Ungulat" verweist, wenn man dem Fachportal wikipedia.org glauben darf, auf eine Gruppe von Säugetieren, insbesondere Paarhufer wie Rinder, Schweine, Ziegen und Schafe. Manche Paarhufer sind eher Einzelgänger, zum Beispiel Hirschferkel. Generell tendieren Paarhufer aber dazu, sich zu größeren Gruppen zusammenzuschließen. Nach jüngsten Ergebnissen der Feldforschung unterliegen auch Sportjournalisten diesem Herdentrieb. Zumindest sieht das Jesse Norman so. Der Abgeordnete des britischen Parlaments bezeichnete die heimische Presse am Mittwoch als "Herde von Ungulaten"; sie habe einen seiner Gesprächsfetzen aus dem Kontext gerissen und sich dann auf ihn gestürzt. Und allein deshalb, tobte Norman, stehe Paula Radcliffe, Säulenheilige der britischen Leichtathletik, jetzt unter Dopingverdacht.
Jesse Norman sitzt dem Sportausschuss im britischen Parlament vor. Dieser hatte am Dienstag eine Sitzung zum Thema Blutdoping einberufen; es ging um jene verdächtigen Werte aus einer Datenbank des Welt-Leichtathletikverbands IAAF, die Sunday Times und ARD im August gehoben hatten. Die dreistündige Sitzung war fast vorbei, als Norman eine Frage an David Kenworthy richtete, den Vorsitzenden von Englands nationaler Anti-Doping-Agentur. "Wenn man hört, dass möglicherweise Sieger des London Marathons, darunter möglicherweise britische Athleten, angeblich verdächtige Blutwerte aufweisen - welchen Einfluss hat das auf die Natur dieser Veranstaltung?", fragte Norman.
Die verdächtigen Blutwerte seien "ungültig", richtet Radcliffe in einer Mitteilung aus
Britische Sieger beim London Marathon? Wenn man die Wertung der Rollstuhlfahrer ausklammert, war zuletzt nur eine Athletin für derartige Taten verantwortlich: Paula Radcliffe, 41, ehemalige Langstreckenläuferin, die 2003 in London in 2:15:25 Stunden den bis heute validen Marathon-Weltrekord erschuf. Radcliffe fühlte sich dann auch prompt angesprochen. Sie setzte ein emotionsbeladenes Statement ins Netz: Niemals habe sie sich unlauterer Mittel bedient, "ich habe lange und hart für einen sauberen Sport geworben. Ich habe Betrüger öffentlich verurteilt. Diese Anschuldigungen bedrohen alles, wofür ich stehe."
Norman versuchte, die Debatte mit einem Exkurs ins Tierreich wieder einzufangen. Die britischen Medien debattierten da aber längst über Radcliffe und verdächtige Blutwerte. Die Sunday Times hatte ja vor einem Monat drei angeblich abnormale Werte eines "erfolgreichen britischen Athleten" aus der IAAF-Datenbank gefischt. Diese Werte seien mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1000 auf natürliche Weise zustande gekommen, erklärten zwei australische Experten damals. Der betroffene Sportler soll dem Blatt ausgerichtet haben: "Wenn ihr das druckt, verklage ich euch." Dieser Athlet, das weiß man jetzt auch dank Jesse Norman, war Radcliffe.
Die 41-Jährige bestätigte das indirekt in ihrer Mitteilung. Sie habe sich damals ja öffentlich äußern wollen, "ich wurde aber darauf aufmerksam gemacht, dass mein Name dann mit falschen Anschuldigungen verknüpft werden könnte - was meinen Ruf irreparabel beschädigen würde." Jetzt, da Radcliffes Name über Umwege nach außen drang, ist die Erklärungsnot freilich umso größer. Radcliffe beteuerte , die Werte seien "ungültig". Manche seien deshalb so hoch, weil sie kurz zuvor einen Halbmarathon bei 30 Grad gelaufen sei, andere, weil sie gerade krank war oder ein Höhentrainingslager absolviert habe.
Sie habe die Redakteure der Times auch angerufen, um ihnen diesen Kontext zu vermitteln, leider habe niemand abgenommen. Die Zeitung richtete aus: "Wir haben nie eine Antwort von ihr erhalten." Und während die Debatte um Radcliffes Blutwerte wohl kaum dazu taugt, ihr ein konkretes Dopingvergehen nachzusagen, erzählt sie doch einiges darüber, wie tief Unsicherheit, Zweifel und Misstrauen im Sport und beim Publikum mittlerweile wurzeln.
Radcliffe steckt dabei in einem Dilemma, sie muss ja auch auf die Dopingfahndung jener Institution verweisen, die das Klima des Zweifels fleißig gesät hat: die IAAF. Michael Ashenden, ein Experte, der die Datenbank des Weltverbands für die Times ausgewertet hatte, sagte dem Sportausschuss des Parlaments: "Das größte Problem ist, dass sie ihre eigenen Regeln nicht durchsetzen. Das wäre ein PR-Desaster für sie." Am Mittwoch wurde der Anti-Doping-Kampf des Verbands dann etwas transparenter, wenn auch unfreiwillig. Im Internet wurde eine Studie von der Leichtathletik-WM 2011 veröffentlicht, 93 Prozent der Teilnehmer hatten einen Fragebogen beantwortet. Man könnte daraus schließen, folgert die Studie, "dass zwischen 29 und 34 Prozent der Athleten" vorab gedopt hatten. Veröffentlicht wurde das Papier vom Sportausschuss des britischen Parlaments. Die IAAF hatte sich bis zuletzt dagegen gewehrt.