Senioren-Leichtathletik:Dieser Mann hat 103 EM-Titel gewonnen

Guido Müller, Senioren Leichtathlet Vaterstetten

Dreimal war Guido Müller, 80, der Weltsportler des Jahres in der Senioren-Leichtathletik. Nun hat er seinen letzten Wettkampf absolviert.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)
  • Guido Müller, 80, hat im Laufe seiner Karriere 103 Europameistertitel im Freien und in der Halle geholt, dazu 156 deutsche Meistertitel. Er hält 14 Weltrekorde.
  • Nun hört der Athlet vom TSV Vaterstetten auf.

Von Andreas Liebmann

Guido Müller blickte nach rechts. Sein Lauf war noch nicht zu Ende. Es war das letzte Rennen dieser deutschen Leichtathletik-Seniorenmeisterschaften, Sonntagnachmittag, Leinefelde, Thüringen. Es war sein letztes Rennen. Der Münchner spurtete gerade Richtung Ziellinie, die beiden Führenden, Adolf Nehren und Willi Scheidt, würde er wohl nicht mehr einholen können. Aber dort rechts vom Ziel standen plötzlich so viele Menschen, die applaudierten, die ihm zujubelten. Von "100 Sportkameraden" berichtete er später, andere hatten eher 200 gezählt. Guido Müller wurde Dritter in diesem 200-Meter-Finale, aber das war nicht wichtig. All die Menschen, die seine Leidenschaft mit ihm teilten, die längst fertig waren mit ihren Wettkämpfen und eigentlich gerne nach Hause gefahren wären, waren ihm zuliebe geblieben, um ihn zu verabschieden. In den Ruhestand, mit 80 Jahren. "Dass sich mein Rücktritt so lauffeuerartig verbreitet, hatte ich nicht erwartet", sagte Müller, dem jemand ein Mikrofon für ein paar Abschiedsworte in die Hand drückte. "Das war schon bewegend."

1983 begann Guido Müller mit der Senioren-Leichtathletik. Ein ehemaliger 400-Meter-Hürdenläufer, der mit Mitte 20 aufgehört hatte, weil es für Olympia nicht ganz reichte, und der plötzlich als "Nobody", wie er sagt, bei den deutschen Meisterschaften der Altersklasse M45 über 200 und über 400 Meter siegte - bis heute ist dieser Wettkampf einer derjenigen, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben sind. Und die folgende Europameisterschaft in Brighton, mit vier Titeln und seinem ersten Weltrekord über 400 Meter Hürden.

Seitdem ging kaum noch ein bedeutender Wettkampf in der Senioren-Leichtathletik vorüber, ohne dass Guido Müller, aufgewachsen in Kornwestheim, wohnhaft in München und startend für den TSV Vaterstetten, Titel und Bestzeiten holte. 14 Weltrekorde hält er aktuell, aufgestellt hat er noch viel mehr. 103 Europameistertitel im Freien und in der Halle kamen hinzu, 156 deutsche Meistertitel, 35 deutsche, 26 Europarekorde. Dreimal in seiner Laufbahn hat ihn der internationale Leichtathletik-Verband IAAF zum Weltseniorensportler des Jahres gekürt, zuletzt 2014. Darauf ist Müller besonders stolz, weil es dabei nicht nur um seine Erfolge ging, sondern auch um sein Auftreten als Sportsmann, der auf der ganzen Welt Freundschaften knüpfte.

Vor fünf Jahren sagte er: "Hoffentlich finde ich den Absprung!"

Guido Müller konnte sich in Leinefelde nicht mit einem Titel verabschieden. Auf seiner Paradestrecke, den 400 Metern, wurde er Zweiter. Nach 30 Starts bei deutschen Stadionmeisterschaften war es erst das zweite Mal, dass er nicht der Sieger war. "Ich bin aber nicht enttäuscht", versicherte er danach, "ich bin genau im Bilde über meine Leistungen."

Soll heißen: Mehr war nicht drin. Vor einem Jahr hatte Müller in dieser Altersklasse noch fünf Disziplinen gewonnen, im Frühjahr wurde er noch Hallen-Weltmeister - dennoch hat auch er, der so unerhört lange fit geblieben war, zuletzt körperlich nachgelassen. Koordination, Gleichgewichtssinn. Training wie Wettkämpfe seien zur Belastung geworden, nicht zu vergessen die vielen Reisen. Von dieser Last habe er sich nun befreit, auch um mehr Zeit für seine Frau zu haben.

Wer lange genug verbissen durchhält, wird dank schwindender Konkurrenz irgendwann Titel holen - genau so hat Guido Müller Seniorensport nie aufgefasst. Ihm war es zuwider, Kollegen zu sehen, die sich nur noch quälten; die zu abenteuerlichen Disziplinen wechselten, nur um noch mitzumischen; oder Hindernisläufe, nach denen man "Gebisse aufsammeln" müsse - so hat er das vor fünf Jahren mal zugespitzt, verbunden mit dem Zusatz: "Hoffentlich finde ich den Absprung!" Er hat ihn gefunden. Gelegentlich, riet er nun, müsse man sich überprüfen: "Sieht das noch ästhetisch aus, was man da macht, oder lachen einen die anderen da draußen längst aus und denken sich: ,Der kann auch nicht aufhören.'" Aber die anderen lachten ja nicht. Sie applaudierten.

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