Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Grenzen im Graubereich

Ein neues Testosteron-Limit für intersexuelle Sportler sorgt für erbitterte Debatten. Athletinnen müssen sich eventuell mit Hormonen behandeln lassen.

Von Johannes Knuth

Caster Semenya hat sich erst einmal gelassen gegeben zuletzt, sie weiß ja mittlerweile, wie sich das anfühlt: Wenn einen die halbe Welt anzustarren scheint. Die südafrikanische Leichtathletin setzte über eine digitale Plattform zwei Sätze ab, die wohl auch an die Führung des Leichtathletik-Weltverbands IAAF adressiert waren. "Ich bin zu 97 Prozent sicher, dass ihr etwas gegen mich habt", schrieb Semenya, "und zu 100 Prozent sicher, dass mir das egal ist." Dazu veröffentlichte sie einen grimmig dreinblickenden Smiley. Der sah freilich so aus, als sei Semenya die ganze Sache doch nicht ganz so egal.

Die Leichtathleten eröffnen dieser Tage die Bahnsaison, am Freitag steht das erste Treffen bei der Diamond League in Doha an, der prestigeträchtigsten Wettkampfserie. Auch Semenya hat sich angekündigt über 1500 Meter. Der Sport beschwört bei diesen Gelegenheiten gerne den Aufbruch. Zum einen erleben die Leichtathleten das erste Jahr ohne ihre Überfigur Usain Bolt, zum anderen möchten sie gern die Skandale der alten Führungsriege abschütteln (gegen die noch immer ermittelt wird). Nun wird dieser Aufbruch überdeckt von einer alten Debatte, die wieder aufflammt; sie zielt vor allem auf Caster Semenya, 27, zweimalige Olympiasiegerin und Weltmeisterin über 800 Meter.

Die Debatte geht in etwa so: Wie bringt man den Sport, der strikt zwischen Mann und Frau teilt, zusammen mit der Natur, die nicht immer so scharf trennt? Oder anders gefragt: Was berechtigt eine Frau dazu, als Frau zu starten?

Athletinnen müssen sich eventuell mit Hormonen behandeln lassen, um den Wert zu senken

Es gibt im Hochleistungssport immer wieder Athletinnen, deren Körper mehr von dem männlichen Sexualhormon Testosteron produziert als für Frauen gewöhnlich. Semenya fällt offenkundig in diese Kategorie (offiziell bestätigt hat sie das nie). Eine neue Studie, angeschoben und mitbetreut vom Weltverband IAAF, attestiert diesen Athletinnen nun einen signifikanten Vorteil im Wettstreit von bis zu neun Prozent - zumindest beim Hammerwurf, im Stabhochsprung und auf der Mittelstrecke. Letztere ist Semenyas Spezialität. Ab kommenden November, so hat es die IAAF jetzt beschlossen, müssen diese Athletinnen ihren Testosteronspiegel auf unter fünf Nanomol pro Liter senken, spätestens sechs Monate vor einem Großereignis. Nur dann dürfen sie bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften starten. Betroffen ist zunächst nur die Mittelstrecke, von 400 Metern bis zur Meile. Athletinnen, die ihren Spiegel nicht senken, müssen bei den Männern starten. Oder in einer noch zu schaffenden Startklasse für "intersexuelle Athleten", wie die IAAF schreibt. Oder, das schreibt die IAAF nicht, ihre internationalen Karrieren wären vorbei.

Der neue Passus dürfte auf Zustimmung bei vielen Athletinnen stoßen, die sich zuletzt an Semenyas Dominanz abrackerten, ihren 1:55,16 Minuten über 800 Meter zum Beispiel. "Es ist hart, uns mit diesen Zeiten messen zu müssen", klagte die Australierin Brittany McGowan im April bei den Commonwealtch Games, wo Semenya Gold über 800 und 1500 Meter gewann. Die IAAF stimmt nun in den gleichen Chor ein. Die neuen Regeln seien dazu gedacht, "faire und sinnvolle Wettkämpfe zu gewährleisten" und bilden "in keiner Weise ein Urteil über das Geschlecht oder die Identität eines Athleten". Kritiker unterstellen dem Weltverband allerdings genau das: Athleten wie Semenya müssen sich mit Hormonen behandeln lassen, um den neuen Grenzwert zu erreichen, das verändere die Gesundheit und das Selbstwertgefühl. Katrina Karkazis, eine Expertin auf dem Feld und Bioethikerin an der Yale-Universität, klassifizierte die neue Regel als "politisch und wissenschaftlich schwach". Politisch, weil die IAAF nur die Mittelstrecke erfasst, Semenyas Hoheitsgebiet. Und unseriös, weil die neue Studie den Vorteil der intersexuellen Sportler übertreibe (was Kollegen mittlerweile bestätigen). Und sei es nicht ein Widerspruch, wenn ein Sport die Gaben eines Usain Bolt besingt, gleichzeitig die natürlichen Vorteile anderer im Namen der Fairness beschneidet? Wo liegt die Grenze in einem Feld, das weder Schwarz noch Weiß kennt, nur Schattierungen von Grau?

Fragen, die den Sport seit Jahren überfordern. Semenya wurde 2009 in Berlin Weltmeisterin, 18 Jahre, burschikos, tiefe Stimme; später sickerten Details über ihre Veranlagung an die Öffentlichkeit. Die IAAF installierte eine Obergrenze für Testosteron bei Frauen (10 Nanomol pro Liter), Semenya lief in der Folge deutlich langsamer. Dann setzte die indische Sprinterin Dutee Chand den Grenzwert vor zwei Jahren außer Kraft, der Sportgerichtshof Cas verlangte von der IAAF stichhaltigere Nachweise. Semenyas Leistungen? Florierten plötzlich wieder. Nachfragen, zum Beispiel ob sie davor hormonsenkende Medikamente hatte nehmen müssen, winkte sie durch. Sie sei, wie sie sei, das habe der Sport nun mal zu akzeptieren. Und jetzt?

Die Debatte dürfte weitere an Kraft gewinnen, bevor der Passus im November in Kraft tritt (und Semenyas Leistungen wohl wieder einbrechen). In Südafrika protestierte sogar die Regierungspartei ANC ("Rassistisch!"), der Sportrechtsexperte Steve Cornelius legte zuletzt seinen Posten im Disziplinarkomitee der IAAF nieder. Semenya ist dem Vernehmen nach nicht die einzige intersexuelle Läuferin auf der Mittelstrecke; gut möglich, dass Athleten erneut vor den Sportgerichtshof ziehen. Dann würden Recht und Wissenschaft erneut um klare Antworten gebeten für einen Konflikt, bei dem es keine klaren Antworten gibt. Vielleicht nicht mal eine zufriedenstellende Lösung.

Olympiasieger Kiprop unter Verdacht

Kenias Leichtathletik steht offenbar vor einem weiteren Dopingskandal: Asbel Kiprop, Peking-Olympiasieger und dreimaliger Weltmeister über 1500 m, ist nach Informationen der englischen Tageszeitung Daily Mail positiv bei einer Trainingskontrolle getestet worden. Fedrico Rosa, Manager des 28-Jährigen, teilte dem Blatt mit, dass er "Gerüchte gehört" habe und sich um eine Bestätigung bemühe. Kiprop war der bestimmende 1500-m-Läufer des vergangenen Jahrzehnts, holte nach Olympia-Gold 2008 die WM-Titel 2011, 2013 und 2015. In den vergangenen beiden Jahren schwächelte er allerdings, wurde bei Olympia 2016 nur Sechster und bei der WM 2017 Neunter.

Der Fall Kiprop, dem zwei Jahre Sperre drohen, würde die lange Serie von Dopingaffären rund um kenianische Läufer weiter fortsetzen. Seit 2011 wurden mehr als 40 kenianische Athleten positiv getestet, darunter die beiden Marathon-Stars Jemima Sumgong und Rita Jeptoo. sid

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Quelle:
SZ vom 03.05.2018
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