Man darf dem Wetter nicht böse sein, und die Sache von damals ist ja auch längst verjährt. Elf Jahre liegt es zurück, deutlich länger, als Organisator Matthias Schimmelpfennig es spontan geschätzt hätte, da hatten die Verantwortlichen für das Gräfelfinger Stabhochsprung-Meeting derart die Nase voll vom alljährlichen Dauerregen, dass sie ernsthaft darüber debattierten, ihre Veranstaltung ein für alle Mal einzustellen.
Aktuell hängen in Gräfelfing wieder Plakate, die „Deutschlands größtes Stabhochsprung-Festival“ bewerben: drei Tage, drei Anlagen, Livestream, 230 Teilnehmer. Alles an diesem Wochenende soll größer sein als je zuvor. Sie haben also durchgehalten. Wobei das keine Selbstverständlichkeit war: Es war ja damals, 2013, kein einmaliges Erlebnis, als der Himmel seine Schleusen so weit geöffnet hatte, dass Schimmelpfennig völlig perplex war, dass überhaupt noch einige Unverdrossene aus dem Topfeld anreisten.
Drei von ihnen probierten sogar tatsächlich zu springen, Helfer trugen ihnen auf jedem Schritt Zelte hinterher, stellten Heizpilze auf. Ein einziger gültiger Versuch kam dabei zustande, und jede Landung auf der Matte löste eine Art Flutwelle aus. Viele Regionen Bayerns versanken damals im Jahrhundert-Hochwasser, doch das Gräfelfinger Meeting war eben auch in den Jahren davor schon so regelmäßig von Niederschlägen heimgesucht worden, dass es ihre Erfinder vermutlich längst bereuten, es auf den Namen „Touch the Clouds“ getauft zu haben, statt auf „Touch the Sky“ oder irgendeinen anderen wolkenlosen Titel. Es war wie ein Fluch.
Die Stabhochsprung- und Mehrkampferfolge üben eine Sogwirkung im Verein aus
Die Frage damals lautete, ob der Aufwand all der Helfer noch gerechtfertigt war, wenn doch das Meeting vor den Toren Münchens mit jeder verregneten Ausgabe seinen Zweck verfehlte: Einnahmen zu generieren für die Nachwuchsarbeit des Vereins. Seitdem hatten sie weitgehend Glück mit dem Wetter, vielleicht muss man sich das kurz vergegenwärtigen, jetzt, wo die Prognosen für das bislang größte Touch the Clouds mal wieder nicht ganz so prickelnd sind.
„Das war auf jeden Fall vor meiner Zeit“, stellt Andreas Krumpholz Mitte der Woche fest. Draußen auf dem Sportplatz sind schon neun Holzbuden aufgebaut, eine LED-Wand und ein Kran, es wird gehämmert und geschraubt, am Maschendrahtzaun wehen Fahnen der Teilnehmerländer im Wind, und Schimmelpfennig weist – noch im Trockenen – lächelnd auf diese besondere Mischung aus „Dorfsportplatz und Hightech-Equipment“ hin, die sich über die Jahre gebildet hat. Er hat hier einen Stützpunkt des Bayerischen Leichtathletik-Verbands geschaffen, ist Landestrainer für Stabhochsprung. Krumpholz ist der Abteilungsleiter, er kam tatsächlich erst deutlich nach jenem Hochwasser ins Amt, vor fast sieben Jahren. Er hat es sich in einem Kraftraum des Sportgeländes auf einem kleinen Kasten gemütlich gemacht, und auch er probiert sich dort an einem kleinen Rückblick.
Leichtathletik:Wettbieten um den München-Marathon
Seit fast einem Vierteljahrhundert veranstaltet Gernot Weigl, 71, die Großveranstaltung in der Landeshauptstadt. 2025 will ihn nun die LG Stadtwerke als Organisator ablösen und hat sich bei der Stadt dafür beworben. Das Problem: Weigl möchte keineswegs abgelöst werden.
Der hat viel weniger mit dem Wetter zu tun – eher liefert er eine Erklärung dafür, wieso der Verein sich von ein paar Regenfällen heute wohl weniger aus der Ruhe bringen lassen muss als früher.
Im Stabhochsprung hat sich Gräfelfing zum zweitgrößten deutschen Standort hinter Leverkusen entwickelt, und auch auf die anderen Disziplinen übe das eine beachtliche „Sogwirkung“ aus, erzählt er. Man kann sagen, der TSV Gräfelfing ist in den vergangenen Jahren erstaunlich wetterfest geworden.
Die 400-Meter-Läufer um Johannes Trefz brachten damals den Hochleistungssport mit
Ganz einfach war das nicht. In München sitzt ein großer Nachbar, der Vereinsverbund der LG Stadtwerke, mit besten Verbindungen zu den Verbänden und zum Olympiastützpunkt. Es war ein Coup, als sie bald nach Krumpholz’ Amtsübernahme und mit der Hilfe eines großen Kranunternehmens ein 400-Meter-Quartett um Johannes Trefz samt Trainern von der LG Stadtwerke nach Gräfelfing loseisten. „Die haben damals den Hochleistungssport nach Gräfelfing gebracht“, erinnert sich Krumpholz. Plötzlich habe man hier internationale Medaillen geholt. Inzwischen gebe es über die 400 Meter „einen Generationswechsel“. Über 100 Meter sei man noch nicht ganz so weit, auch wenn es nun eine neue Sporthalle mit einem Sprinttunnel gibt, die wichtig für den Nachwuchs ist: Es gibt landesweit noch immer sehr wenige Indoor-Trainingsstätten für Leichtathletik.
Auf vier Disziplinen wollte sich der TSV konzentrieren, die vierte neben dem Stabhochsprung ist der Mehrkampf. Dort ist Felix Wolter gerade für die EM in Rom (7. bis 12. Juni) nominiert worden. Er ist zum Studium in die USA gezogen, sein Verein unterstützt ihn aber auch dort, hat etwa gemeinsam mit dem Sponsor einen fünfstelligen Betrag in maßgeschneiderte Stabhochsprung-Stäbe für seinen besten Mehrkämpfer investiert. Auch Gräfelfings beste Stabhochspringerin, Chiara Sistermann, studiert inzwischen in den USA.
280 Mitglieder gibt es, 36 Aktive im Stabhochsprung und Mehrkampf, 20 Trainer, 15 Kader-, fünf Bundeskaderathleten, alles in einem ehrenamtlichen Umfeld. Es wäre ein nächster Schritt, sagt Krumpholz, es irgendwie hinzubekommen, dass sich der Stützpunkt künftig nicht hinter US-Unis und der Konkurrenz aus Leverkusen anstellen müsse, aber fast interessanter ist die Frage, wie es der Verein eigentlich bis hierhin geschafft hat; bis zu einem Punkt, an dem Krumpholz klagen kann, dass man ein wenig unter dem eigenen Erfolg leide, weil die vielen Kadermitglieder auch Kosten bedeuten und es schwierig sei mit der Sportförderung in Deutschland im Allgemeinen und den Verbandszuwendungen im Besonderen. Das alles in einer Sportart, die sicher nicht so modern daherkomme wie Basketball oder Parkour.
Leichtathletik:Zum Höhenflug nach Jerusalem
Lilly Samanski, Spross einer Eishockey-Großfamilie, ist als Stabhochspringerin auf dem Weg nach oben. Obwohl sie spät begann, ist sie zurzeit die Nummer eins ihrer Altersklasse in Europa - und damit die Favoritin bei der anstehenden U18-EM.
Aus der nicht allzu exklusiven These, dass Breiten- und Leistungssport einander bedingen, sind in Gräfelfing ein paar interessante Ideen entstanden. Zunächst hatte Krumpholz eine Leichtathletikschule im Verein installiert. Dann fanden sich immer mehr ehemalige Leichtathleten und Freunde der Sportart, die sich als Sponsoren einbrachten, und etwa ein Dutzend Experten aus verschiedenen Berufsfeldern betätigen sich als Mentoren, um den Leistungssportlern beim Berufseinstieg zu helfen. Auch Trefz hat dieses Netzwerk nach dem Karriereende geholfen.
Das Schulprojekt des Vereins hat sich zur gemeinnützigen GmbH verselbstständigt – „eine Mission“, sagt Krumpholz
Aus dem Ansatz, als Verein auch an Schulen zu gehen, ist schließlich ein Projekt entstanden, das sich im Laufe der Zeit verselbstständigt hat, weg von Leistungs- und Sichtungsgedanken, sogar ein bisschen weg aus Gräfelfing und von der Leichtathletik: An 15 Schulen bieten die Gräfelfinger mittlerweile Sport für den Ganztag an, auch außerhalb ihrer Gemeinde; mit ausgebildeten Fachkräften erreichen sie laut Krumpholz 500 Schülerinnen und Schüler jede Woche, ganz bewusst auch an sozialen Brennpunkten. Wer den Spartenchef so reden hört über Bewegungsdefizite, über Sportstundenentfall, über die Bequemlichkeit der Politik, die für ihr Ganztagsangebot voll auf die Sportvereine setzt, ohne zu fragen, woher die eigentlich die nötigen Ehrenamtlichen bekommen sollen, dem wird schnell klar: Mit dem Ausbau der eigenen Abteilung hat das Ganze nicht mehr viel zu tun. Aus dem Schulprojekt ist eine gemeinnützige GmbH mit idealistischem Ansatz entstanden, „es ist schon eine Mission“, sagt Krumpholz.
Das Touch the Clouds ist natürlich weiterhin das Aushängeschild des Vereins, und es soll weiter wachsen. Für dieses Wochenende ist die Schweizerin Angelica Moser gemeldet, Diamond-League-Niveau, wie Schimmelpfennig betont, sie ist Weltranglistensechste und ein Glücksfall für das Meeting. Angeführt werden die Topfelder von der Griechin Nikoleta Kyriakopolou (Besthöhe 4,83 Meter) und dem Schweizer Dominik Alberto (5,71). Klar, am Freitag setzte dann der Dauerregen ein, eine der Anlagen wurde kurzerhand in die Halle verfrachtet, und auch an den kommenden beiden Tagen soll es nass bleiben. Aber alles können sie nun auch nicht beeinflussen.