Leichtathletik:Für Astrophysiker und Mathematiker

European Athletics Indoor Championships - Day 3 Session 1

Vermutlich vergeblich gestreckt: Hochspringer Tobias Potye, hier bei der Hallen-EM im März in Torun.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Der Weg vieler Leichtathleten zu den Sommerspielen ist ohnehin beschwerlich. Eine neue Weltrangliste verkompliziert die Sache - das erzählt auch einiges über die Probleme der olympischen Kernsportart.

Von Johannes Knuth, München

Der Hochspringer Tobias Potye ist auch akademisch betrachtet ein vielseitig beschlagener Mensch, sein Studium lässt die Fächer Kunst, Medien und Informatik verschmelzen. Unlängst hat Potye nun noch ein paar neue Qualifikationen erworben, irgendetwas zwischen Ingenieurmathematik und Astrophysik: Der 26-Jährige hat seit Wochen herumgerechnet, wie er noch auf einen der Plätze in der neuen Weltrangliste rutschen könnte, der ihn zu den Olympischen Spielen versetzen würde. Wie hoch muss er springen? Bei welchem Meeting? Wie beeinflussen die Pläne der Mitbewerber sein Tun? Das vorläufige Endergebnis aller Hochrechnungen: Potye hätte am Sonntag in Leverkusen gewinnen müssen, mit 2,30 Metern, mindestens. Diese Vorgabe verfehlte er klar, mit 2,24 Metern, wobei Potye das finale Verdikt erst am kommenden Wochenende erfährt, wenn die Nominierung festgezurrt wird.

Der Zugang zu den Sommerspielen, die in knapp vier Wochen in Tokio anbrechen, ist ohnehin schon erschwert, aber die Leichtathleten machen es sich so, wie sie es ganz gut können: noch mal komplizierter. Früher hatten es die Olympiakandidaten leicht, zumindest was die Auflagen betraf - sie mussten eine bestimmte Höhe, Weite oder Zeit einreichen. Der Olympia-Fahrer von heute muss zunächst Wissen in Logistik und Außenpolitik paaren, zu welchem Wettkampf er gerade unter welchen Corona-Auflagen anreisen kann; er reichert das an mit Kenntnissen in Immunologie, wie er die Schutzimpfung am besten in den Trainingsplan quetscht; schließlich rechnet er sich durch die Weltrangliste. Das wirft einige Probleme auf, bis hin zur Frage, wie eine olympische Kernsportart sich eigentlich versteht: als Eliteshow, oder auch als Biotop für einen Unterbau, der die ganze Vielfalt des Sports zur Schau stellt?

Als der Brite Sebastian Coe vor sechs Jahren die Leitung des Leichtathletik-Weltverbands übernahm, stellte er viele, mal mehr, mal weniger durchdachte Reformpläne vor, darunter eine Weltrangliste. Die funktioniert, grob gesagt, wie im Tennis: Je größer der Anlass ist, bei dem man brilliert, desto mehr Punkte werden dem Athleten gutgeschrieben. Wer die meisten Punkte sammelt, ist, sehr grob gesagt, auch für Olympia qualifiziert. Dafür kann man sich zwar weiterhin per Norm einschreiben, diese sind mittlerweile aber meist so knackig, dass die Startfelder selten mit Norm-Inhabern voll werden. Der Weltverband reichert die restlichen Startplätze in Tokio nun erstmals mit den nächstbesten Athleten aus der Weltrangliste an. Jede Leistung wird dabei in einen "Performance Score" umgewandelt; je hochklassiger der Wettkampf, mit desto mehr Punkten wird das Ergebnis veredelt; wobei jeder nur eine bestimmte Zahl an Resultaten einbringen kann.

Die größte Hürde ist: Hochklassige Wettkämpfe, wie Meetings der Diamond League, haben eigenständige Budgets und Sponsoren, auch das eigenständige Interesse, die besten Athleten zu präsentieren, in jeder Disziplin. Das sind meist nur dieselben Athleten, die die Normen oder Punkte für die Großereignisse schnell beisammenhaben. Sebastian Kneifel, Potyes Trainer, formuliert es so: "Das Absurde ist, dass diejenigen, die anhand ihrer Vorleistungen bei den meisten Meetings mitmachen dürften, gar nicht auf die Punkte angewiesen sind." Die restlichen, wenigen Startplätze sind dann meist umkämpft, und nicht immer kommt der stärkste Athlet dabei zum Zug, sondern der mit dem am besten vernetzten Manager.

Die deutschen Meetings haben oft Probleme, sich die teureren Lizenzauflagen zu leisten

Potye hat es da schwer als aufstrebender Athlet, Bestleistung 2,27 Meter, auch bei mittelgroßen Meetings schaffte er es zuletzt oft nur auf die Warteliste. Das wühlte wiederum die Trainingsplanung auf: Auf Abruf mal eben nach Ostrava oder Genf jetten? Und dann bitteschön aber Höchstleistung bringen? Der Grundgedanke einer Weltrangliste sei ja spannend, sagt Kneifel, sein Trainer - möglichst viele, gute Sportler bei vielen Wettkämpfen zusammenzuziehen -, "aber so, wie derzeit der Zugang zu vielen Wettkämpfen geregelt ist, ist es zu wenig verlässlich."

Oder wie die Läuferin Hanna Klein schon im Vorjahr sagte: Der Zugang zu großen Meisterschaften werde so letztlich "fast nur noch durch Manager entschieden".

Auch sonst wirft das neue System Fragen auf in einem Sport, der immer mehr Kräfte an der Schwelle zu den Profis verliert. Die LG Stadtwerke München, Potyes Verein, stattet derzeit rund 800 Athleten mit Startpässen aus. Es geht da längst nicht nur um die Olympiaträume von Hochleistungssportlern wie Potye oder den Läuferinnen Christina Hering und Katharina Trost, es geht auch um Fahrtkosten bis hinunter zu deutschen Nachwuchsmeisterschaften. Die neue Weltrangliste, sagt Geschäftsführer Christian Gadenne, verändere da spürbar die Statik: Früher erstatteten viele Meetings den Athleten oft Anreise und Übernachtung, sie mussten ihre Startfelder ja zusammenkriegen. Jetzt, da bestimmte Meetings mehr Punkte für die Weltrangliste versprechen, seien die begehrten Veranstalter schon mal wählerischer - dann fällt für den aufstrebenden Athleten halt der Zuschuss weg.

Bleibt noch der Weg über die deutschen Meetings. Doch da "fressen die Grundlagen oft schon das meiste des Budgets auf", sagt Gadenne; für die Preisgelder und Auflagen etwa, die nötig sind, um viele Punkte für die Weltrangliste verteilen zu dürfen. Das Hochsprung-Meeting im badischen Bühl, bei dem sich früher oft Spitzenathleten in Form brachten, strich für dieses Jahr etwa seinen Elitewettkampf aus dem Programm - viele Athleten hatten abgesagt, mit Verweis auf punkteträchtige Veranstaltungen.

Auch für viele Vereine eröffne das "eine ganz neue Rechnung", sagt der Münchner Gadenne: Wer komme jetzt eigentlich für die Mehrkosten der Athleten auf? Der Athlet? Verein? Manager? Dachverband? "Da würde ich mir vom Deutschen Leichtathletik-Verband schon ein Signal wünschen, wie man das Thema für die Topathleten künftig lösen kann", sagt Gadenne. Bislang habe er da noch keine Botschaften vernommen.

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