Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik-EM:Mit Sport die Bedenken verjagen

  • Der Breitscheidplatz ist eine zentrale Stelle während der EM in Berlin.
  • Der Ort, an dem bei einem terroristischen Anschlag zwölf Menschen ums Leben gekommen sind, soll mit Sport wieder postiv besetzt werden.
  • Das gelingt, weil die Kugelstoßer um David Storl von der Stimmung begeistert sind.

Von Joachim Mölter, Berlin

Das hat man auch schon lange nicht mehr gesehen, dass sich Menschen wegen der Leichtathletik neugierig auf die Zehenspitzen stellen, um über einen Zaun zu schauen; dass sie sich um Lücken in den Abdeckplanen drängen, um einen Blick hinter die Kulissen zu ergattern und mitzukriegen, was da vor sich geht. Wie außerhalb der Umzäunung zu hören war, muss es innerhalb ja ganz schön abgegangen sein.

Es herrschte tatsächlich prächtige Stimmung in der 3000 Zuschauer fassenden Arena, die für die Zeit der Leichtathletik-EM am Berliner Breitscheidplatz aufgebaut ist, unterhalb der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Dort traten die Kugelstoßer auf einer mobilen Anlage am Montagabend zu ihrer Qualifikation an, die Athleten wurden mit lauter Musik präsentiert, die Bässe wummerten, die Leute klatschten rhythmisch, wenn wieder ein starker Mann in den Ring stieg. "Eine großartige Arena, das Publikum ist wirklich klasse", schwärmte der Titelverteidiger David Storl aus Leipzig, der sich mit dem weitesten Stoß, mit 20,63 Metern, für das Finale am Dienstagabend qualifizierte (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe).

Es war das zweite Mal bei Leichtathletik-Europameisterschaften, eine Qualifikation aus dem Stadion auszulagern (nach den Speer- und Diskuswerfern 2016); wenn es nach den Kugelstoßern geht, könnte das so beibehalten werden. "Hier ist halt Stimmung", beschrieb Storl den Unterschied zu früheren Veranstaltungen: "Wenn du im Stadion die Qualifikation stößt, ist halt nicht wirklich viel los.

Da guckst du dir meistens nur die leeren Stühle an." Das Gros der Entscheidungen um Titel und Medaillen fällt freilich auch bei dieser EM im Stadion, in diesem Fall im Olympiastadion; nur die Geher und Marathonläufer sind auch am Breitscheidplatz unterwegs, dort befinden sich Start und Ziel ihrer Wettbewerbe. Die meisten Siegerehrungen werden ebenfalls dort zelebriert, wo die Touristenströme vorbeifließen, am frühen Nachmittag oder am späten Abend, immer so gelegt, dass die Leichtathletik-fans davor oder danach noch ins Stadion zu den Wettkämpfen kommen. Alles ist Teil des Konzepts, die Leichtathletik zu den Menschen in die Stadt zu bringen.

Als sich der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) und die Stadt Berlin um die EM bewarben, war der Breitscheidplatz schon ein zentraler Teil der Kandidatur. Er ist es auch nach dem 19. Dezember 2016 geblieben, nach dem terroristischen Anschlag, bei dem zwölf Menschen getötet und mehr als 70 Personen verletzt wurden. "Das Konzept war für uns aus Pietätsgründen erledigt", sagt Frank Kowalski, der Organisationschef der EM, "aber die Behörden haben uns gebeten, damit weiterzumachen." Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller wollte "ein Zeichen der Völkerverständigung und für die europäische Einheit setzen", wie er vor der EM betonte. Deswegen wird die "europäische Meile", wie das Areal rund um den Platz nun heißt, auch von der Europäischen Union finanziell und ideell unterstützt.

DLV-Präsident Jürgen Kessing sieht Berlin auf einer Linie mit Paris und London, zwei weiteren europäischen Hauptstädten, die von Terrorakten getroffen waren: "Hier geht es nicht nur um Sport, sondern auch um Freiheit. Wir wollen unser öffentliches Leben selbst bestimmen." Die Entscheidung für das Spektakel am Breitscheidplatz sei bewusst gefallen, "wir lassen uns da nicht vertreiben", versicherte Kessing. Kowalski sagt: "Das Konzept wird von allen Seiten in dieser Form akzeptiert."

"Ein Ort des friedlichen Miteinanders"

Auch wenn das Gedenken an die Opfer des Anschlags nicht vergessen wird, auch wenn der Platz massiv gesichert wird von Polizisten und Barrikaden, geht es den Sportfunktionären und Politikern sichtlich darum, den Breitscheidplatz wieder positiv zu besetzen, mit Sport und Spiel und Spaß. Der Platz solle "ein Ort des friedlichen Miteinanders sein", sagte Bürgermeister Müller bei der Eröffnungsfeier.

Diese fand am Montagabend nicht wie sonst im Stadion statt, sondern ebenfalls in der Arena neben der Gedächtniskirche. Den ersten Eindrücken nach zu urteilen, ist es den Leichtathleten gelungen, die Bedenken vom Breitscheidplatz zu verjagen. Als es am Ende der Eröffnungsfeier knallte, zuckte niemand zusammen: Alle erfreuten sich an dem bei dieser Gelegenheit üblichen Feuerwerk.

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SZ vom 08.08.2018/schma
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