Leichtathletik:Ein Quereinsteiger läuft fast allen davon

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Mehr als ein Fingerzeig: Yannick Wolf (rechts) hat hier nicht nur seinen Trainingspartner Fabian Olbert abgehängt, sondern in einem hochklassigen Feld die zweitbeste 60-Meter-Zeit aller Teilnehmer erreicht. (Foto: Karina Hessland/Imago)

Beim Meeting in Erfurt überrascht der ehemalige Weitspringer Yannick Wolf als zweitschnellster Sprinter. Er verpasst dabei knapp eine EM-Norm, die er gar nicht zum Ziel hatte. Über 800 Meter jagen die Münchnerinnen Katharina Trost und Christina Hering ihrer Norm vergeblich hinterher.

Von Andreas Liebmann, Erfurt/München

Natürlich waren sie bereits in München getestet worden. Nach der Ankunft in Erfurt folgte in einer Eishalle der nächste Corona-Schnelltest. Und nach ihrer Rückkehr werden sich die sechs Leichtathleten von der LG Stadtwerke München ein weiteres Mal testen lassen müssen, ehe sie wieder ins Training einsteigen dürfen. Es sind fordernde Zeiten. Andererseits hatte es die Gruppe Auserwählter ja gut: Sie durfte am Dienstag einen hochrangigen Wettkampf bestreiten - was zurzeit auch nicht selbstverständlich ist.

Lavinja Jürgens war gut zu erkennen, nicht nur wegen ihrer beachtlichen Größe. Sie saß auch einfach günstig, als die Kamera die Hochspringerinnen beim Erfurter Leichtathletik-Meeting zeigte. Als der Stadionsprecher ihren Namen verlas, stand sie kurz auf, winkte etwas schüchtern mit dem Unterarm ins nicht vorhandene Publikum und nahm wieder Platz.

Die Debütantin und das Phantom

Mit Jürgens' Münchner Trainingskollegin Laura Gröll verhielt es sich anders. Die 22-Jährige war nicht zu entdecken. Vielleicht war sie aus dem Bildausschnitt gerutscht oder sie hatte sich hinter einem der leeren grauen Stühle versteckt, als der Kommentator des Livestreams sie namentlich vorstellte. Sogar Christian Gadenne ließ sich zu Hause am Monitor kurz irritieren, weil man die deutsche Hallenmeisterin des Jahres 2020 erstens so kamerascheu ja nun auch nicht kennt - und sie doch zweitens wegen Prüfungen die Hallensaison auslassen wollte. So zumindest lauteten die letzten Informationen, die der Geschäftsführer der LG Stadtwerke München hatte.

Ein bisschen nervös: Die gerissene Höhe von 1,85 Meter hätte Lavinja Jürgens bei ihrem Debüt für die LG Stadtwerke wohl draufgehabt. (Foto: Karina Hessland/Imago)

Es stellte sich rasch heraus, dass Gadennes Informationen stimmten: Weder Gröll noch der für sie reservierte Stuhl nahmen an dem Wettbewerb teil. Sie war ja auch nicht mit im Zug nach Thüringen gesessen. Lavinja Jürgens dagegen gab ein ordentliches Debüt für ihren neuen Verein. Ende des Vorjahres hat sie sich der Münchner Leichtathletik-Gemeinschaft angeschlossen, vor ein paar Tagen ist die Allgäuerin 21 geworden, und weil es zurzeit nicht viele Wettkämpfe gibt, hatte sie diesem Auftritt entgegengefiebert. Bis zur Höhe von 1,82 Meter verbuchte sie nur einen Fehlversuch. Die 1,85 Meter riss sie aber dreimal und blickte danach enttäuscht von der Matte ins Leere - Rang vier. Die Trainingsleistungen hätten mehr erhoffen lassen, sagte ihre Mutter und Trainerin Cora, mit der sie im Wohnmobil angereist war; sie erkannte etwas Nervosität. Dass der Live-Kommentator Lavinja Jürgens trotz ihres Vereinswechsels hartnäckig dem TSV Kranzegg zuschlug, konnte Gadenne in München halbwegs verkraften.

Gerangel um die Norm

Einer der Höhepunkte dieses Meetings sollte, auch aus Münchner Sicht, der 800-Meter-Lauf der Frauen werden. Schließlich war eine Reihe von Läuferinnen dabei, denen die Norm für die Hallen-Europameisterschaft Anfang März in Torun/Polen (2:03,00 Minuten) zuzutrauen war, zuvorderst der deutschen Meisterin Christina Hering und ihrer Münchner Vereinskollegin Katharina Trost.

Doch die Antwort auf die obligatorische Trost-oder-Hering-Frage lautete diesmal: Spill. Tanja Spill vom TSV Bayer Uerdingen/Dormagen kämpfte sich in der Schlussrunde an beiden Favoritinnen vorbei, Trost wurde Zweite, Hering Dritte. Andreas Knauer, kürzlich vom Münchner Stützpunktleiter zum Bundestrainer aufgestiegen, freute sich für die lange von Verletzungen geplagte Spill ("ein taktisch ausgebufftes Rennen"). Hering könne kurz nach einem Höhentrainingslager ebenfalls zufrieden, weil noch nicht in Topform sein; und weil es keine Absprachen gegeben habe ("alle wollten etwas fürs Tempo tun"), war die formstarke Trost im Rennverlauf eine entscheidende Weile eingeklemmt gewesen. "Vielleicht hätte sie sich entschlossener befreien müssen", sagte Knauer, der mit dem Saisoneinstieg zufrieden war - mit dem Wermutstropfen, dass das dritte Viertel des Rennens derart langsam geriet, dass trotz rasanter Schlussrunde alle die Norm verfehlten: Spill in 2:03,25 Minuten, Trost in 2:03,43, Hering in 2:03,86. "Ich glaube, dass das heute möglich gewesen wäre", bedauerte Knauer. Im dritten Abschnitt habe Rennroutine gefehlt, "da hätten alle tougher sein können".

"Ein taktisch ausgebufftes Rennen": Katharina Trost (links) und Christina Hering (hinten) mussten in Erfurt die 800-Meter-Siegerin Tanja Spill ziehen lassen. (Foto: Karina Hessland/Imago)

Katharina Trost, die wenige Tage zuvor in Karlsruhe eine Weltjahresbestleistung über 1500 Meter aufgestellt hatte, wird am Sonntag in Dortmund erneut über die längere Distanz starten. Die Frage nach dem Grund für das Pendeln zwischen den Distanzen ist schnell beantwortet: "Wir haben genommen, was kommt", sagt Knauer. In Corona-Zeiten sei es nicht einfach, ohne übermäßige Reiserisiken passende Rennen zu erwischen. Er ist weiterhin zuversichtlich, einige Athletinnen zur EM zu bringen. Trost habe auf beiden Strecken gute Chancen.

Mit dem Willen, "es durchzuziehen"

Aus Münchner Sicht war letztlich ein anderer Athlet herausragend, nämlich Yannick Wolf, ebenfalls ein Pendler zwischen Disziplinen. Dabei war auch er im entscheidenden Moment nicht zu sehen, denn das A-Finale über 60 Meter hatte der 20-Jährige in einem Top-Feld verpasst. Dritter des etwas langsameren Vorlaufs war er. Im Pulk hinter Sieger Julian Reus, dem deutschen Rekordsprinter, konnte man ihn auf dem Zielfoto kaum erkennen. Wolf ist übrigens eigentlich Weitspringer. Oder besser: war?

"Ich würde sagen, ich bin jetzt ein Sprinter, der ab und zu immer noch Weitsprung macht", sagt Wolf. 6,80 Sekunden lautete seine Vorlaufzeit, sehr ordentlich für einen Quereinsteiger. Jedes Jahr war er im Anlauf etwas schneller geworden. Weil es aber nicht leicht sei, das in Weite umzusetzen, sei der Sprung darüber zum "Trauerspiel" verkommen. Die neue Geschwindigkeit aus dem Training in Sprintwettkämpfen umzusetzen, habe er aber auch erst lernen müssen. So kam es, dass Wolf zuletzt weder da noch dort einen Kaderstatus hatte und mitten in der Pandemie unter doppeltem Druck stand: Beruflich brauchte er die Kaderzugehörigkeit, um bei der Polizei im Spitzensportprogramm zu bleiben, das es ihm nun erlaubt, sich von Februar bis Oktober ganz auf Sport zu konzentrieren. Und sportlich ist der Kaderstatus unverzichtbare Eintrittskarte für Münchner Trainingsanlagen. Auch hinter Wolf liegen Monate mit Krafttraining im heimischen Keller und Laufeinheiten "auf dem Feld", zumal die Anlagen in Bayern im ersten Lockdown auch für Topathleten länger geschlossen waren als anderswo. "Ich habe immer gesagt: Man wird irgendwann sehen, wer in dieser Zeit viel getan hat", sagt er nun. Im August in Weinheim rutschte ihm ein 100-Meter-Sprint in 10,27 Sekunden raus, seit November hat er nun seinen Platz im Perspektivkader - als Sprinter. Darauf liegt nun sein Fokus. Den Weitsprung will er trotzdem beibehalten.

"Man braucht den Willen, es durchzuziehen", betont Wolf während der Heimfahrt im Zug. Nun spricht er allerdings nicht über seinen Sport, sondern über seine Frisur. Vor einem Jahr hat er die Haare radikal abrasiert, seitdem lässt er sie wachsen, von einem Extrem ins andere, auch wenn er "von allen Seiten" Kritik einstecke. In Erfurt hatte er die langen Haare zu einem Knoten gebunden. Im B-Finale gelang ihm ein fantastischer Lauf: Er siegte in 6,66 Sekunden, neue Bestzeit. Im echten Finale war nur Michael Pohl vom Sprintteam Wetzlar eine Hundertstel schneller. Alle anderen brauchten länger, inklusive Rekordmann Reus. Fast hätte er aus dem B-Lauf die Norm zur Hallen-EM geknackt, 6,63 Sekunden. "Die ist jetzt näher gerückt, aber eigentlich habe ich sie nicht als Ziel", sagt Wolf. Er will am Sonntag in Dortmund starten und dann bei den deutschen Hallenmeisterschaften (20./21. Februar) seine Form bestätigen. Wenn er so läuft wie in Erfurt, wird er nicht nur wegen seiner Haare gut zu erkennen sein.

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