Süddeutsche Zeitung

Ophélie Claude-Boxberger:Eine sehr französische Dopingaffäre

  • Die Dopingaffäre um die Leichtathletin Ophélie Claude-Boxberger ist komplex - und überhaupt sehr französisch.
  • Es geht längst nicht nur um Drogen und Betrug im Sport. Es geht auch um gefährliche Liebschaften und sexuelle Gewalt.
  • Am Ende dieses Dramas könnte Claude-Boxberger, 31, tatsächlich reingewaschen werden vom Dopingvorwurf.

Von Leo Klimm, Paris

Jetzt kommt auch noch der Streik dazwischen. Ursprünglich sollte in dieser Woche die B-Probe des Dopingtests geöffnet werden, der Ophélie Claude-Boxberger so in die Bredouille gebracht hat. Die Läuferin, Spezialistin über 3000 Meter Hindernis, will dabei sein, wenn das Fläschchen mit ihrem Blut im Labor der französischen Anti-Doping-Agentur AFLD geöffnet wird. Der Befund der A-Probe hatte kurz vor den Leichtathletik-Weltmeisterschaften im September ergeben: Claude-Boxberger ist gedopt. Mit dem berüchtigten Erythropoetin, kurz: Epo.

Aber die Öffnung der B-Probe muss warten - eben wegen des großen Streiks, der Frankreich gerade lahmlegt: Claude-Boxberger hat keinen Fahrschein mehr bekommen für einen der wenigen Züge, die noch von ihrem Heimatort Montbéliard in Ostfrankreich nach Paris fahren, wo das Labor ist. Nächste Woche soll es einen neuen Versuch geben. Polizeigewahrsam, 48 Stunden lang, hat die Athletin schon hinter sich. "Das war hart", sagt sie. Die ungeheizte Zelle, das Verhör, in dem sie ihre Unschuld beteuert hat und dass sie sich einfach nicht erklären könne, wie die verbotene Substanz in ihren Körper gelangt sei.

Die Sache mit dem Streik ist nur die jüngste Wendung in dieser komplexen und überhaupt sehr französischen Dopingaffäre. Es geht darin nicht nur um Drogen und Betrug im Sport. Es geht auch und vor allem um gefährliche Liebschaften, um Rache und Ränke - und um sexuelle Gewalt. Am Ende dieses Dramas könnte Claude-Boxberger, 31, tatsächlich reingewaschen werden vom Dopingvorwurf. Vorausgesetzt, ihr ebenso erstaunliches wie originelles Alibi hält.

Eine weitere Hauptfigur ist ihr Lebensgefährte

Alain Flaccus, ihr Assistent, hat ihr dieses Alibi verschafft, als auch er kürzlich von den Ermittlern verhört wurde. Er hat sich selbst schwer belastet: Flaccus will Claude-Boxberger das Epo während ihrer WM-Vorbereitung im Pyrenäendorf Font-Romeu gespritzt haben. Ohne dass sie es bemerkt habe. Als er sie gerade massierte. So zitiert die Sportzeitung L'Équipe aus Flaccus' Vernehmung.

Sicher ist: Kurz nach dem Trainingslager ergab die A-Probe eines Dopingtests den positiven Befund. Erst nach den Weltmeisterschaften in Doha meldete die französische Anti-Doping-Agentur dies an die Staatsanwaltschaft. Die ermittelt seitdem wegen "Vergehen gegen die Gesetzgebung über Doping und Rauschmittel".

Flaccus ist im Drama um Claude-Boxberger eine von zwei männlichen Hauptfiguren. Seine Rollenbeschreibung wäre unvollständig ohne den Hinweis, dass er einst der Jugendtrainer der Athletin war - und dass der Ruheständler heute der Lebensgefährte ihrer Mutter ist. Die andere Hauptfigur ist Claude-Boxbergers eigener Lebensgefährte: Jean-Michel Serra. Er ist der offizielle Arzt des französischen Leichtathletikverbandes. Eine pikante Liaison.

Öffentlich wird sie just während der WM in Doha im vergangenen September, als in sozialen Netzwerken Fotos der beiden auftauchen. Der Wettkampf verläuft katastrophal für Claude-Boxberger: Sie scheidet über 3000 Meter Hindernis schon im Vorlauf aus. Fluchtartig verlassen die Läuferin und ihr Freund Katar.

Als nach den Weltmeisterschaften die Nachricht von der positiven Dopingprobe kommt, fällt der Verdacht schnell auf Serra. Als Arzt, so die naheliegende Vermutung, könnte er Zugang haben zu Epo. Und hatte Serra nicht schon 2018 eine Beschwerdemail an die Anti-Doping-Agentur geschickt, in der er sich über allzu häufige Kontrollen bei Claude-Boxberger beklagte? Sie sei "psychisch labil", die vielen Tests machten ihr zu schaffen, hatte Serra geschrieben. Für die Mail ist er damals vom Verband gerügt worden. Serra gibt einen plausiblen Verdächtigen ab.

Genau darauf soll Flaccus spekuliert haben, als er ihr angeblich im Trainingslager eine Epo-Spritze setzte. Er habe aus Eifersucht gehandelt, soll er den Ermittlern jüngst in seinem Verhör gestanden haben. Er habe die Beziehung Claude-Boxbergers mit Serra zerstören wollen.

Claude-Boxberger verbindet mit Flaccus eine schmerzvolle Vorgeschichte: Als er ihr Jugendtrainer war, soll er sie missbraucht haben. "Er hat mich von 2003 bis 2006 immer wieder vergewaltigt", hat sie einmal in einem Interview gesagt. 2003 war sie 15 Jahre alt. 2007, als sie volljährig war, erstattete sie gegen Flaccus Anzeige wegen "unsittlicher Berührungen". Sie zog die Anzeige wieder zurück. Dennoch wurde der damalige Jugendtrainer vom örtlichen Leichtathletikverein entfernt und durfte nicht einmal mehr das Jacky-Boxberger-Stadion betreten - benannt nach Claude-Boxbergers Vater, einem Lokalhelden von Montbéliard, der es bei Olympia 1968 in den 1500-Meter-Endlauf schaffte.

Vor einem Jahr aber kam Flaccus plötzlich in Claude-Boxbergers Leben zurück. Als der neue Lebensgefährte ihrer Mutter. Die wiederum soll ihre Tochter, die jetzt Spitzensportlerin war, gedrängt haben, ihrem früheren Peiniger eine Rolle in ihrem Stab zuzugestehen. "Es ist sehr schwer für mich, die Wunden sind überhaupt nicht verheilt", erklärt Claude-Boxberger in L'Équipe, warum sie der Bitte der Mutter nachkam: "Aber ich habe mich entschieden, ihm zu verzeihen, schließlich ist er der Partner meiner Mutter." Seit vergangenem Jahr ist Flaccus ihr Assistent für alles: Pacemaker (auf dem Fahrrad), Koch, Chauffeur. Und Masseur.

Mit der rechten Hand die Epo-Dosis in die Pobacke gespritzt

Wie er der Läuferin während einer Massage im WM-Trainingslager in den Pyrenäen eine Epo-Spritze gesetzt haben soll, hat er den Polizisten in der Vernehmung geschildert: Auf einem Parkplatz von Font-Romeu, ein Leistungszentrum für Nordische Sportarten, habe er bei einem Doping-Dealer für 350 Euro zwei Hormonspritzen gekauft. Später habe er Claude-Boxberger nach einem langen Trainingstag so lange massiert, bis sie eingeschlafen war. Dann war angeblich die Gelegenheit da: Mit der linken Hand habe er weiter den Rücken der Athletin geknetet, mit der rechten habe er die erste Epo-Dosis in eine Pobacke gespritzt. Claude-Boxberger sei von dem Stich zwar aufgewacht, habe sich aber schnell beruhigen lassen: Er habe sie nur ein wenig zu fest gekniffen, habe er schnell behauptet. Sie sei wieder eingeschlafen. Auf die zweite Spritze soll Flaccus verzichtet haben.

Claude-Boxberger zeigt sich in diesen Tagen erleichtert über das Geständnis des Mannes, der erst ihr Schinder und dann ihr Gehilfe war. "Jetzt verstehe ich, wie Epo in meinem Körper gefunden werden konnte", sagt sie: "Ich hätte nie gedacht, dass so ein Ränkespiel dahintersteckt."

Wer konnte das schon denken? Die Frage ist, ob auch die Polizei Flaccus' abenteuerlicher Erzählung glaubt. Sie könnte Zweifel haben. Etwa daran, das er sich auf einem Parkplatz in Font-Romeu einfach so Epo besorgen konnte. Oder daran, dass Claude-Boxberger vom überraschenden Stich einer Spritze nicht mehr bemerkt haben soll. "Flaccus könnte sich auch für sie geopfert haben", lassen sich Ermittler anonym in französischen Medien zitieren.

Ophélie Claude-Boxberger kann hoffen: Bewahrheitet sich die Geschichte von der Massage, die zu weit ging, ist sie weißgewaschen. Sie entgeht dann einer Sperre von vier Jahren. Alain Flaccus aber drohen sieben Jahre Haft.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2019/ebc
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