Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Die Verwandlung

Mit 23 hat sich Paul Walschburger aus der deutschen Elite im Dreisprung verabschiedet. Er will als Bobfahrer noch einmal ganz von vorn beginnen. Den Sprung von einem Bundeskader in den anderen hat er schon geschafft - den ersten Sturz hat er auch schon erlebt.

Von Andreas Liebmann

Es war an einem Donnerstag, als Paul Walschburger damit begann, seine Grenzen einzureißen. Er befreite sich im Eiltempo von einigen jener Gewissheiten, die einem Orientierung geben im Leben, die einen aber auch einengen können. Und weil er schon mal dabei war, veränderte er noch rasch seinen Körperbau, sein Alter und den Ablauf der Jahreszeiten. Und danach? War ihm erst einmal übel.

Paul Walschburger ist als einer der besten deutschen Dreispringer bekannt. Anfang dieses Jahres hat die Augsburger Allgemeine noch eine Geschichte über ihn gebracht, über seinen "Neuanfang nach 1,5 Jahren", mit einer Sprunggelenksverletzung, Komplikationen und einem Unfall. Die Sache mit dem Neuanfang hat sich dann aber doch ganz anders entwickelt, radikaler. Im Sommer hat der 23-Jährige seinen Ausstieg aus der Leichtathletik beschlossen, in der er in mehreren Nachwuchsklassen bis zur U23 viermal deutscher Meister war und an zwei Europameisterschaften teilnahm. Er fährt nun Bob.

Diesen Umstieg hat er nicht exklusiv. Es ist ja naheliegend, dass der Bobverband schnellkräftige Anschieber eher in der Leichtathletik sucht als beim Schach oder Kegeln. Christian Rasp, Tobias Schneider und Florian Bauer sind solche Beispiele, drei ehemalige Sprinter der LG Stadtwerke München, für die auch Walschburger jahrelang an den Start ging. Rasp und Bauer fahren im Team von Johannes Lochner, qualifiziert für Peking und "Vorbild" für Walschburger; Schneider sitzt im Bob von Christoph Hafer.

Am Donnerstag ging er zum Probetraining, am Freitag wurde er gleich zum ersten Wettkampf geschickt

Paul Walschburger war aber gar nicht angesprochen worden von Vertretern des Bobsports, er hatte die Idee selbst. An einem Donnerstag Mitte August wurde er vorstellig zum Probetraining; am Freitag nahm er gleich am ersten Wettkampf teil, im Anschieben eines Übungsbobs auf Schienen. Und nun hat er einen Bundeskaderplatz, wie zuvor als Springer; in der Spitzensportfördergruppe der Polizei in Dachau ist er von einem Leistungssport zum anderen gewechselt, von der Sommer- zur Winterabteilung. Soweit zu den Jahreszeiten.

Die Sache mit dem Alter ist auch schnell erklärt. Natürlich ist Walschburger weiterhin 23, daran wird sich bis zu seinem 24. Geburtstag voraussichtlich wenig ändern. Aber das Alter kann im Sport eine sehr relative Größe sein. In der Leichtathletik, sagt er, werde das Kadersystem immer weiter gestrafft, es gebe Überlegungen, die U23 als Nachwuchsklasse abzuschaffen, es werde schon mit 20 geschaut, ob man an der Weltspitze dran sei. Mit 23 war Walschburger drauf und dran, bald zu den Alten zu zählen, immer in der nationalen Elite dabei, aber bei den Erwachsenen nie deutscher Meister. Da sei immer irgendwas dazwischengekommen, schiefgelaufen. Im Bob zählt man bis 26 zu den Junioren. Walschburger ist so gesehen noch mal ein Stück jünger geworden, er sitzt nun im Bob von Tobias Dostthaler, einem Nachwuchsteam, das gerade aufgebaut werde: "Wir sind jung und unerfahren."

Die Leichtathletik zu verlassen, treibe ihm keine Tränen in die Augen, versichert er - auch wenn damit ein Lebensabschnitt endet. Eigentlich hatte der Krumbacher schon zwei Leichtathletik-Karrieren, er war mal bester deutscher Nachwuchs-Weitspringer. Am Nürnberger Elite-Gymnasium aber fiel er zurück, wollte hinschmeißen. Dann brachte ihn Landestrainer Richard Kick zum Dreisprung, holte ihn mit 18 nach München. Es ging wieder voran. Walschburger sei ein nachdenklicher, "gescheiter Kerl", sagte Kick, "er schaut sich viele Videos an und macht sich seinen eigenen Reim darauf. Er ist keiner, der nur wartet, was der Trainer sagt." Ein Grübler, dem dann manchmal die Leichtigkeit fehlte. Zuletzt hat Walschburger es noch mal anders probiert, mit einem Wechsel nach Chemnitz, doch dort kamen ihm die Verletzungen dazwischen.

Mit denen hat sein Neuanfang nichts zu tun, betont er. Sondern mit dem Wissen um seine Grenzen, seine Limits, wie er sagt. Dem Steigerungspotenzial. Er war nie der schnellste Läufer, kam immer über Kraft, war kein 1,90-Leichtgewicht, sondern 1,81 Meter und robust - und er habe eben hochgerechnet, was er mit einem perfekten Sprung an einem perfekten Tag erreichen könne. Fazit: Ein, zwei EM-Teilnahmen wären vielleicht möglich gewesen, "aber da hätte schon viel zusammenkommen müssen". Tendenz: unwahrscheinlich. Die EM 2022 in München? Unerreichbar. "Ich hätte international nichts gerissen", ist er sich sicher, "das hätte sich nicht ausreichend angefühlt." Der Traum jedes Leistungssportlers sei es doch, sich international zu messen. Er will das nun im Bobsport probieren.

Am Anfang dachte er, es werde sich anfühlen "wie Schlittschuhfahren bergab". Dann wurde er durchgeschüttelt

Was das bedeutet, erfuhr er nicht an jenem August-Donnerstag, auch nicht am Freitag, sondern am 1. Oktober in Winterberg, seiner ersten Fahrt im Eiskanal. "Da steht man dann schon mit einer anderen Nervosität." Er habe gedacht, das sei "wie Schlittschuhfahren bergab", gesteht er lächelnd, doch man werde "brutal durchgeschüttelt", Druck auf dem Brustkorb, man sieht nur durch die eigenen Beine ins Schlitteninnere. Desorientiert, wie er war, wurde ihm furchtbar schlecht von der Fahrt. Das werde besser, sobald man die Bahn kennt und ahnt, was als Nächstes passiert. Und natürlich wäre alles leichter, wäre die Bahn am Königssee nicht vom Unwetter zerstört. Das "Bild der Verwüstung" hat er live in Augenschein genommen, die intakte Bahn kennt er nicht. Er hofft, dass sie bald wieder aufgebaut wird.

Was mit ihm selbst passiert ist seit August, findet Paul Walschburger "ziemlich verrückt". Statt 78 wiegt er nun 93 Kilogramm. "Man blickt in den Spiegel und sieht jemand ganz anderen." Als Leichtathlet habe er immer kämpfen müssen um ein verträgliches Gewicht, doch kaum habe er seinen Körper "von der Leine gelassen", wie er sagt, ihm ein paar Kalorien, Proteine und Krafttraining spendiert, begann eine Art Verwandlung. "Ich habe das Gefühl, mein Körper dankt es mir, dass ich nicht mehr gegen, sondern mit ihm arbeite." Als Bobfahrer sollte man mehr als 100 Kilo wiegen, um den Schlitten in Bewegung zu bringen, das will er spätestens nächstes Jahr erreichen. Aktuell musste er sich sogar etwas bremsen, "die Sehnen und Gelenke ächzen" wegen der Veränderung. Aber Paul Walschburger gefällt, was er im Spiegel sieht.

Aus Altenberg kehrte er mit einer Gehirnerschütterung heim - den Europacup muss das Team für dieses Jahr abhaken

Er will sich schon auch treu bleiben. Weiter Musik machen, zum Beispiel. Als Singer-Songwriter hat er in seiner Freizeit zwei Alben herausgebracht, ab und zu steht er auf kleinen Bühnen. Mit der Rückkehr aus Chemnitz ist er nun sogar wieder in der Trainingsgruppe seines alten Förderers Richard Kick gelandet, mit dem er die Leidenschaft zur Musik und für Gitarren teilt. Ein bisschen leichtathletisches Training braucht er weiterhin, deshalb werde er auch der LG Stadtwerke treu bleiben. Und den 74-jährigen Kick habe er "sehr gern".

Bei zwei Nachwuchs-Europameisterschaften hat Paul Walschburger Schwarz-Rot-Gold getragen, das Besondere waren die Qualifikationen: Für Grosseto waren 15,60 Meter gefordert, die schaffte er in Mannheim, mit dem allerletzten Sprung im letztmöglichen Wettkampf - auf den Zentimeter genau. Er war dann sogar Fahnenträger. Zwei Jahre später zur U23-EM war es ähnlich, in Wetzlar sprang er 15,96 Meter - 15,95 betrug die Norm. Wieder auf den letzten Drücker, "in einer Situation, in der niemand an mich geglaubt hat". Es hätte zweimal schiefgehen können, "dann würde ich jetzt anders zurückblicken". Aber mit einem Zentimeter über Norm zwei Europameisterschaften zu erreichen, "das war ein Märchen. Ich habe alles aus meinem Talent rausgeholt", glaubt er. Jetzt ist es Zeit für neue Märchen.

Am vergangenen Samstag ging es in Altenberg, Sachsen, mit Selektionsrennen zum Europacup los, weitergehen sollte es nun in Winterberg, Nordrhein-Westfalen. Doch es kam anders. Ihr Bob stürzte, Walschburger und seine Mitfahrer kehrten mit Schrammen im Gesicht und Gehirnerschütterungen aus Altenberg zurück; der Pilot und ihr Bob hatten etwas mehr abbekommen und müssen "geflickt werden". Den Europacup müssen sie für dieses Jahr also abhaken. Walschburgers Verwandlung ist damit aber quasi vollendet. Erst wer mal gestürzt ist, sagen die Kollegen, ist ein echter Bobfahrer.

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