Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Der Reiz der Langstrecke

Simon Boch, der derzeit stärkste Athlet aus der Regensburger Läufergruppe, erfüllt bei seinem Debüt im Marathon auf Anhieb die Olympia-Norm. Auch weil der 26-Jährige gelernt hat: Wer lange schnell laufen will, muss erst die Langsamkeit entdecken.

Von Johannes Knuth

Dem Trainer war schon ein wenig mulmig. Sein Schützling wollte sich doch tatsächlich noch immer mit voller Kraft in diesen Marathon stürzen, mit einem Tempo, das zunächst auf eine Zeit von 2:09 Stunden abzielte. Obwohl der Wind an diesem Vormittag im Großen Garten in Dresden sogar sturmerprobte Nordseeliebhaber ins Warme gezwungen hätte, den Läufern immer wieder entgegenrollte auf dem 2,5 Kilometer langen Rundkurs, auf dem die Organisatoren ein kleines Läuferfeld versammelt hatten. Und dann war es auch noch der erste Ausflug, den der Läufer Simon Boch auf diese unwägbaren 42,195 Kilometer unternahm. "Ein Ritt auf der Rasierklinge", wie Kurt Ring, sein Trainer, selbst mit ein paar Tagen Abstand befand.

Aber Boch ließ sich nicht beirren. Bloß die Olympianorm zu schaffen, jene 2:11:30 Stunden, das reichte nicht. Es musste schon eine Zeit um die 2:10 Stunden her, wollte Boch seinen Traum von den Spielen am Leben halten, in seinem einzigen Marathon vor den Tokio-Spielen im Sommer. Und wenn er etwas anpackt, dann richtig, auch im Marathon, in dem man so konsequent planen kann wie man will, oft zerfallen alle Pläne ja doch wieder. Das macht es so frustrierend - und so reizvoll.

Am Ende durfte Boch sich freuen, dass ihn sein Mut nicht ins Verderben geführt hatte, im Gegenteil. Seine 2:10:48 Stunden waren zwar langsamer als Amanal Petros' deutscher Rekord (2:07:18) und Hendrik Pfeiffers Vorleistung (2:10:18). Dafür war er elf Sekunden schneller als Richard Ringer, der am 11. April in Hamburg den dritten und letzten deutschen Startplatz für Tokio wieder an sich ziehen kann. Andererseits: Bochs Ritt nötigte in Dresden vielen Beobachtern Respekt ab; sein einziger Tempomacher hatte schon nach knapp 13 Kilometern aufgegeben, den Rest war er solo durch den Wind gerannt. Bei wohltemperierten Bedingungen, sagte er, "geht sicherlich noch einiges mehr".

Es ist ja nicht so, dass noch nichts gegangen wäre beim 26-Jährigen von der LG Telis Finanz Regensburg. Elf nationale Titel stehen in seiner Vita, vor allem auf den mittleren Straßendistanzen und im Crosslauf, aber dort schwappt das Interesse der Öffentlichkeit selten hinein. Im Marathon ist das anders, und da ist Boch im ersten Anlauf gleich in die nationale Elite gestürmt. Wobei der Weg dorthin eher einem Langstreckenlauf glich, der einiges erzählt über die Tücken eines Läuferlebens.

2:08, 2:09 Stunden traut Boch sich im Marathon langfristig schon zu

Boch hatte seine Laufbahn vor sieben Jahr schon mal kurz aufgegeben, die Verletzungssorgen rissen einfach nicht ab. Ein Freund aus der starken Regensburger Läufergruppe knüpfte den Draht zu Kurt Ring, dem Teamchef, und dessen Diagnose war etwas weitreichender, wie er heute amüsiert berichtet: "Die Großstadt Stuttgart war einfach nicht der richtige Ort für einen Schwarzwälder, der Bäume, die Natur und Partner um sich herum braucht." Der Start in Regensburg verlief freilich auch stotternd, Boch war häufiger verletzt als gesund - er führe einen "Porsche-Motor in einem Dacia-Logan-Gestell" mit sich, hatte er dem Laufportal Larasch einmal gesagt. Das habe man erst in den Griff bekommen, sagt Ring, als Boch "Seele und Körper" in Einklang brachte: Er schloss eine Lehre als Einzelhandelskaufmann ab, in einem Laufgeschäft, klar, ein Leben im Zeichen der Laufschuhe. Bald kamen die Erfolge, seine Bestzeiten zuletzt legten schon Größeres nahe: 28:01 Minuten über zehn Kilometer, 61:36 Minuten bei der Halbmarathon-WM im vergangenen Herbst.

Es ist ein harter Kampf um Beständigkeit auf der Langstrecke, aber Boch, sagen sie nicht nur in Regensburg, könne sich in diesem tückischen Gewerbe durchaus etablieren. 2:08, 2:09 Stunden traue er sich schon zu, sagte er zuletzt in Dresden. Sollte es mit Tokio nicht klappen, hat er sich die Europameisterschaften 2022 in München ausgeguckt, entweder über 10 000 Meter oder im Marathon. Er hat seinen Teilzeit-Job im Laufladen aufgegeben, er wird sich bald wohl um einen Platz in die Sportfördergruppe der Bundeswehr bewerben und hat sich der Lauf-Agentur des Berliner Athletenmanagers Christoph Kopp angeschlossen, der Ausrüsterverträge und Startplätze vermittelt. "Er hat seine festen Vorstellungen für die nächsten Jahre", sagt Ring, auch wenn Boch dafür einige Kompromisse eingehen muss. Er fühlt sich bei Rennen nur in Nike-Schuhen wohl, aber der Ausrüster nimmt gerade keine Athleten unter Vertrag. Boch kauft seine Schuhe also im Geschäft, wie alle Freizeitläufer. Sein alter Arbeitgeber gewährt immerhin ein wenig Rabatt.

Auf die neuartigen Schuhe, die in der Szene zu einer Schwemme an Bestzeiten geführt haben, verzichten sie übrigens auch in Regensburg nicht (bis auf Miriam Dattke, die nach ihren 31:38 Minuten über 10 Kilometer ihren Start in Dresden verletzungsbedingt stornierte). Die Schuhe hätten "zweifelsohne" eine Federwirkung, sagt Ring, aber sie brächten "nicht das, was die meisten glauben", auch viele Läufer. Vielleicht fünf Sekunden über zehn Kilometer, glaubt er, mehr nicht.

Der Trainer misst, wenig überraschend, einer Trainingsumstellung mehr Gewicht bei: Vor drei Jahren habe er einen Vortrag von Patrick Sang verfolgt, dem einstigen Langstreckenläufer aus Kenia, der heute den Marathon-Großmeister Eliud Kipchoge betreut. Sangs Ansatz, sagt Ring, werde in der deutschen Lehre noch immer zu selten geschätzt: Statt viel und hart zu trainieren, müsse man "die richtigen Reize" setzen. Sang hat daraus nie ein Geheimnis gemacht, seine Läufer trainieren schon hart, zwölfmal 1200 Meter bei Marathon-Weltrekordtempo etwa - dazwischen streuen sie aber immer wieder Einheiten ein, die auch Freizeitläufer schaffen, zehn Kilometer bei 4:40 Minuten pro Kilometer etwa. Wer schnell Marathon laufen will, muss auch die Langsamkeit entdecken: Es ist eine Philosophie, sagt Ring, die viele afrikanische Einwanderer nach Europa getragen hätten.

Oder wie der kenianische Marathonläufer Emmanuel Mutai einmal sagte: Arbeite hart. Aber nicht jeden Tag. Das kommt offenbar auch Simon Boch entgegen.

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