Leichtathletik:Der Marathon-Detektiv

RUNNING-NY MARATHON-START-2

Kein guter Streckenabschnitt, um beim New York Marathon abzukürzen: Die Verrazano-Narrows Brücke von Staten Island nach Brooklyn.

(Foto: Stan Honda/ AFP)

Derek Murphy spürt Läufer auf, die bei großen und kleinen Marathons betrügen - im Nebenjob, vom Wohnzimmer aus. Aber nicht allen in der Szene gefällt das vor dem New Yorker Marathon.

Von Christian Brüngger

Ein Mann und ein Laptop genügen, um die internationale Marathonszene aufzumischen: Derek Murphy heißt der umtriebige Amerikaner. Jüngst hat der 46-Jährige seinen spektakulärsten Fall veröffentlicht. Er spürte unter 28 000 Läufern, die beim Marathon in Mexico City starteten, mehr als 5000 auf, die schummelten. Denn Murphy ist in seiner Freizeit der Sherlock des Laufens: Der Wirtschaftsanalyst sucht nach Läufern, die betrügen, also die Strecke abkürzen, einen schnelleren Ersatz für sich aufbieten, Startnummern fälschen, ein Fahrrad benutzen. Oder gar nicht antreten, aber trotzdem eine Endzeit vorweisen.

Normalerweise fischt der Hobbyermittler bloß eine kleine Zahl an Sündern aus einem Rennen. Im Schnitt sind es knapp ein Prozent. Sein Coup in Mexiko erstaunte darum auch ihn. Er offenbart, wie dreist sich viele anstellen - was Murphy bei seinen Recherchen erst ermöglicht, sie aufzuspüren. "Viele Menschen wissen gar nicht, wie oft bei Marathons betrogen wird", sagte er zuletzt in einem TV-Interview.

Der Marathon in Mexiko ist typisch für Murphys Vorgehen: Er erhält Informationen über Unregelmäßigkeiten, von Teilnehmern, Zuschauern, Veranstaltern. Abends, wenn die Familie schläft, setzt er sich dann in seinem Wohnzimmer in einem Vorort von Cincinnati an den Laptop und recherchiert: Fehlen bei manchen Läufern die Zwischenzeiten? Haben sie ihre Bestleistung im Marathon massiv verbessert oder waren sie auf manchen Abschnitten verdächtig schnell? Sind sie auf Fotos im Start- oder Zielbereich zu sehen, gibt es Videoaufnahmen von der Strecke? Bei seinem Coup in Mexiko hörte er, dass viele Läufer erst nach ein paar Kilometern ins Rennen eingestiegen waren - aber dann eitel genug waren, ihre Leistung in sozialen Medien öffentlich zu besingen.

Allerdings werden mittlerweile bei allen Läufen mehrere Zwischenzeiten gestoppt. Die Startnummern vieler Läufe sind mit Sensoren ausgestattet, die ein Signal auslösen, sobald der Athlet eine am Boden liegende Matte auf der Strecke überquert. Murphy kann in den Ergebnislisten rasch feststellen, wie viele Teilnehmer diese Zwischenzeiten passierten. Je mehr Daten eines Läufers fehlen, desto misstrauischer wird er, wie in Mexiko City.

Handyfotos erleichtern die Arbeit

Weil die Läufer immer öfter auch fotografiert werden - in erster Linie, weil die Veranstalter die Fotos an die Läufer verkaufen - hat Murphy zusätzliches Material. Auf manchen dieser hoch auflösenden Zielfotos erkannte er, dass die Distanz auf den Uhren der Läufer nicht der Marathondistanz im Ziel entsprach. Im Zeitalter der Mobiltelefone kommt eine weitere Facette dazu: der Fotobeweis durch Zuschauer oder Mitläufer während des Rennens, wenn sie Betrüger aufnehmen und die Bilder veröffentlichen. Beim New York Marathon vor einem Jahr fiel Murphy eine Reisebloggerin auf, die die 42,195 Kilometer in 3:17 Stunden absolvierte, viel schneller als je zuvor. Als er Fotos und Videos in sozialen Netzwerken durchsuchte, entdeckte er bei einer Zwischenzeit eine Aufnahme, die einen Mann zeigte - er trug die Startnummer der Frau.

Manchmal, wie zuletzt beim Marathon in Mexico City, bleibt Murphy diese Arbeit auch erspart. Die Dreistesten stellten ihr Schummeln selbst im Internet dar.

Kritiker prangen die Methoden des Lauf-Detektivs an

Murphy wundert sich noch immer, was der primäre Grund für solche Schummeleien ist: soziale Anerkennung. Meist in Form einer Finisher-Medaille. Auch die große Mehrheit der Erwischten in Mexico City gab an, einzig die Medaille im Blick gehabt zu haben, weil pro Jahr und Einlauf eine Auszeichnung in Form eines Buchstabens des Marathons dazukommt. Auch dieses an sich harmlose Schummeln ärgert Murphy; er lief früher selbst Marathons, meist in etwas mehr als fünf Stunden, und weiß, wie lange ein Läufer für kleine Fortschritte arbeiten muss. Weshalb er in seinen Anfängen selbst den unbedeutendsten Trickser auffliegen ließ. Auf den Geschmack gebracht hatten ihn vor ein paar Jahren öffentlich diskutierte Fälle. Grundsätzlich sagt er zu seinem Entdeckergeist: "Ich bin ein Läufer und Zahlen-Nerd. Darum kann ich mit meinen Recherchen zwei Leidenschaften verbinden."

Nicht alle sind mit den Methoden des Lauf-Detektivs einverstanden. Das Laufportal Women's Running kritisierte Murphy, es sei nicht seine Aufgabe, Schummler an einen digitalen Pranger zu zerren, wo ihre Namen jahrelang mit einem verhältnismäßig kleinen Vergehen verknüpft werden. Vielleicht hat Murphy seinen Ansatz auch deshalb angepasst, da sein Blog, auf dem er die Fälle präsentiert, immer bekannter wird. Er konzentriert sich auf weitreichende Fälle, sie hängen mit der Popularität großer Städtemarathons zusammen. Starten darf dort nur, wer eine Norm unterbietet. Fälscht ein Läufer seine Zeit, verdrängt er damit einen ehrlichen Läufer für einen Prestigemarathon wie in New York oder Boston. In Boston bewarben sich im Frühjahr 30 000 Läufer, die die Norm erfüllt hatten, auf 26 000 Startplätze. Darunter auch jene Reisebloggerin, die Murphy im Herbst zuvor in New York enttarnt hatte und die ihre Teilnahme für Werbezwecke nutzte. Ihr wurde der Start verwehrt.

Im Großteil der Szene hat Murphy einen exzellenten Ruf, kleinere Veranstalter beauftragen ihn mittlerweile regelmäßig, ihre Felder rein zu halten. Manchmal führt seine Arbeit auch dazu, dass vermeintliche Schummler entlastet werden: Ein 18-Jähriger etwa, der beim London-Marathon vor einem Jahr nur deshalb eine verdächtig schnelle Zeit lief, weil ihn die erste Zeitmessung nicht erfasste. Murphy verdient mit seiner digitalen Hobbydetektei mittlerweile ein Taschengeld, auf seinem Blog schaltet er Werbung und verkauft T-Shits mit dem Aufdruck "Marathon Investigation", das billigste für 20 Dollar.

Bei den Riesen der Branche kümmert sich eigenes Personal um die Betrüger

Bei den Riesen der Branche kümmert sich längst eigenes Personal um die Betrüger. Die Macher des größten Marathons der Welt in New York, der an diesem Sonntag stattfindet, stellen ein eigenes Team. Es durchsucht im Vorfeld die sozialen Medien, um Teilnehmer aufzuspüren, die ihre Startnummer weitergeben wollen oder sie aus Freude ins Netz stellen. Damit riskieren sie, dass die Nummern kopiert werden können. Auch aus diesem Grund wechseln die New Yorker das Design für jeden ihrer Läufe.

Zudem kann ein Teilnehmer die Nummer nur mit einem Ausweis abholen, meist wenige Tage vor dem Start, damit das Zeitfenster zum Fälschen klein bleibt. Auf der Website des New Yorker Marathon gibt es zurzeit eine Kampagne, in der die Teilnehmer vor Betrügern gewarnt werden. Auf 50 000 Läufer rechnen die Organisatoren mit circa 50 Schummlern, eine Zahl, die Derek Murphy für zu gering hält. Er geht von ein paar Hundert aus. Einige werden ihn wohl bald kennenlernen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: