Süddeutsche Zeitung

Der Fall Semenya:Zur Kastration geraten?

  • Die südafrikanische Läuferin Caster Semenya will an diesem Wochenende in Stanford ihr Comeback über 800 Meter geben.
  • Gleichzeitig geht der Rechtsstreit über ihr Startrecht weiter - mit neuen Details.
  • Offenbar hat der Weltverband IAAF Semenya in der Vergangenheit geraten, sich kastrieren zu lassen, um wieder starten zu dürfen.

Von Johannes Knuth

Unter den vielen Sprüchen, die Caster Semenya zuletzt auf ihren digitalen Kanälen veröffentlichte, ragte einer besonders hervor: "Alle reden und reden", schrieb die 28-Jährige, "ich laufe und gewinne einfach. Ist das nicht herrlich?"

So kann man natürlich auch all das bündeln, was sich in der bewegten Geschichte rund um die südafrikanische 800-Meter-Läuferin seit Anfang Mai zugetragen hat. Da segnete der Internationale Sportgerichtshof (Cas) einen Paragrafen des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF ab. Läuferinnen wie Semenya mit sogenannten "Differences of Sex Development" (DSD) sollen künftig nur dann auf den Strecken zwischen 400 Metern bis zur Meile in der Frauenklasse starten, wenn sie ihren erhöhten Testosteronspiegel unter einen Grenzwert zwängen, per Hormontherapie.

Das Urteil provozierte feurige Reaktionen, von Semenya, von ihrem nationalen Verband, auch von der Welt-Ärztevereinigung, die kritisierte, dass ein Sportverband per Dekret an Athletenkörpern herumdoktert. Sogar dem Cas schien sein Urteil nicht ganz geheuer zu sein, er bezweifelte, ob das mit der Hormonbehandlung eine so gute Idee sei. Semenya gewann derweil ein paar Rennen auf Strecken, die nicht vom neuen Passus betroffen waren. Nebenbei klagte sie vor dem Schweizer Bundesgericht, und dort errang sie neulich zumindest einen kleinen Etappensieg: Die Kammer verfügte, dass der umstrittene Paragraf der IAAF erst mal nicht für Semenya gilt, so lange ihr einstweiliger Antrag verhandelt wird. Die IAAF protestierte zu Wochenbeginn zwar dagegen, Semenya steht aber auf der vorläufigen Startliste des 800-Meter-Laufs, der am Sonntag bei der Diamond League in Stanford im Programm steht. Es wäre der erste Start nach ihrem Einspruch vor dem Bundesgericht. Und dann?

163 Seiten mit verstörenden Details

Man darf davon ausgehen, dass die IAAF sich mit aller Macht in den nächsten juristischen Infight werfen wird. Das legt schon die 163 Seiten lange Urteilsbegründung nahe, die der Cas vor Kurzem veröffentlicht hat. Darin finden sich teils neue, verstörende Details darüber, wie beide Parteien das Verfahren vor dem Sportgerichtshof auf ihre Seite hatten zerren wollen, hinter verschlossenen Türen. Semenya bestätigte demnach, dass sie sich nach ihrem ersten WM-Sieg 2009 untersuchen lassen musste, auf Druck der IAAF, die Semenyas Geschlecht zuvor öffentlich angezweifelt hatte.

Anschließend habe der Weltverband verfügt, Semenya könne nur weiter bei den Frauen starten, wenn sie ihren erhöhten Hormonspiegel senke, der ihr von Natur mitgegeben wurde. Sie könne entweder Medikamente nehmen oder sich an ihren innenliegenden Hoden operieren lassen - was einer Kastration gleichkommt. Greta Dreyer, eine Gynäkologin, die Semenya damals betreute, schilderte jetzt vor dem Cas, dass die IAAF damals zur Operation riet. Dreyer war entsetzt; Semenya stimmte letztlich widerwillig zu, ihren Hormonspiegel per Verhütungsmittel zu senken. Das war ein Jahr, bevor der erste Testosteron-Paragraf der IAAF in Kraft trat.

Vier andere Athletinnen mit DSD-Anlagen, zwischen 18 und 21 Jahren, entschieden sich damals übrigens für eine Operation - gelockt von der Aussicht, wieder in der Frauenklasse starten zu dürfen. Das hatte das Portal Sports Integrity schon im vergangenen Jahr berichtet. Die IAAF entgegnete damals, sie habe die Athletinnen weder zu einer Operation gezwungen noch entsprechend beraten. Dreyers Darstellung widersprach sie bislang nicht.

Semenya erfuhr unterdessen diverse Nebenwirkungen, während sie sich ihrer Hormonkur unterzog, wie aus dem Cas-Urteil hervorgeht: Sie habe unter Fieber, Übelkeit und Unterleibsschmerzen gelitten, legte an Gewicht zu, das alles während der WM 2011 und Olympia 2012, wo sie über 800 Meter noch gewann (ehe ihre Leistungen nach und nach zurückgingen). Sie sei auch oft "depressiv" gewesen, bestätigte ein Teamarzt.

Die IAAF habe ihr zudem vorgeworfen, sie würde ihre Medikation nicht zuverlässig nehmen, außerdem würde sie absichtlich langsam laufen, um den großen Vorteil zu verschleiern, der sich aus ihrer Veranlagung speise. Semenya wies das scharf zurück. 2015 legte der Cas dann den alten Testosteron-Grenzwert der IAAF still - und mit ihm den Behandlungszwang für alle DSD-Athletinnen. Der Weltverband müsse bessere Beweise für seinen Passus erbringen, verfügten die Sportrichter. Das tat die IAAF dann auch, was in den umstrittenen neuen Paragrafen und Semenyas Einspruch vor dem Cas mündete.

Und noch zwei pikante Details gehen aus der Begründung des Cas hervor. Erstens hatte die IAAF vor dem Sportgericht behauptet, dass DSD-Athletinnen zwar laut Pass und gesellschaftlichem Konsens als Frauen gelten - ihr Chromosomensatz, 46 XY nämlich, zeige aber, dass sie "biologisch männlich" seien. Dabei hatte der Verband in der Öffentlichkeit lange bestritten, dass er sich auf diese Argumentation stütze.

Zum Wohle des Frauensports

Zweitens stellte Stéphan Bermon, Leiter des Wissenschaftsressorts der IAAF, bei den Sportrichtern eine Studie vor, die zeigen sollte, dass Athletinnen wie Semenya ungewöhnlich große Vorteile gegenüber den meisten anderen Frauen genießen, dank ihrer Veranlagung. Diese Studie strotzte vor Mängeln; viele Vergleichswerte stammten etwa von mutmaßlich gedopten Athletinnen, die ihren Hormonhaushalt ebenfalls manipuliert hatten. Doch das störte offenbar weder Bermon, der vor Jahren bereits zu den kastrierten Athletinnen geforscht hatte, noch den Cas. Der befand, trotz aller Bedenken, die er in der Begründung äußerte, dass DSD-Athletinnen ihren Hormonpegel senken müssen. Zum Wohle des Frauensports.

Das ist der tiefe, vermutlich unauflösbare Konflikt, der auch aus dem vollen Cas-Urteil hervorgeht: Dass der Sport eine Mehrheit schützen will, indem er eine Minderheit "diskriminiert", wie die Cas-Richter zugaben - und das mit teils hochproblematischen Vorschriften und brüchigen Beweisen. Wogegen sich Semenya nun weiter wehrt, während sie rennt und gewinnt.

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SZ vom 28.06.2019/dsz
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