Leichtathletik:HRW beklagt "Menschenrechtsverletzung" im Fall Semenya

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Im Fokus einer nicht enden wollenden Debatte: die Südafrikanerin Caster Semenya. (Foto: Francois Nel/Getty Images)

Die Organisation Human Rights Watch erklärt, dass der Testosteron-Paragraf Läuferinnen wie Caster Semenya stark benachteiligt - und fordert den Leichtathletik-Dachverband auf, die umstrittene Regel stillzulegen.

Von Thomas Kistner und Johannes Knuth, München

Es ist ruhig geworden um die Leichtathletin Caster Semenya, zumindest in ihrer Karriere auf der Tartanbahn. Im Februar noch schuf die Südafrikanerin einen Landesrekord, allerdings über die selten gelaufenen 300 Meter, in 36,78 Sekunden. Dann kam die Pandemie. Semenya begnügte sich fortan damit, in den sozialen Netzwerken Bilder aus den Vorjahren hochzuladen, auf denen federt sie der Weltspitze auf der Mittelstrecke davon, über 800 und 1500 Meter. "Social distancing at its best", schrieb sie unter die Fotos: Seht her, so geht Abstandhalten!

Größeres Nachrichtenaufkommen verursachte Semenya erst wieder im Herbst. Da bestätigte das Schweizer Bundesgericht einen umstrittenen Paragrafen, den der Leichtathletik-Weltverband 2018 in sein Regelwerk gehievt hatte. Läuferinnen wie Semenya, geboren mit sogenannten Differences of Sex Developments (DSD), dürfen nur dann bei internationalen Rennen zwischen den 400 Metern und einer Meile starten, wenn sie ihren natürlicherweise erhöhten Testosteronspiegel unter einen Grenzwert zwängen, mit Medikamenten etwa. Semenya war juristisch dagegen vorgegangen, vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas in Lausanne, dann vor dem Schweizer Bundesgericht, ohne Erfolg. Zuletzt verkündete sie, dass sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen werde. Die 29-Jährige akzeptiert das nicht: dass sie als gesunder Mensch im Sport erst als Frau gilt, wenn sie Pillen schluckt.

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Damit ist sie längst nicht mehr allein. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert in einem neuen Bericht, der der SZ vorliegt, die entsprechenden Testosteron-Paragrafen als "Menschenrechtsverletzung". Der Leichtathletik-Dachverband World Athletics (WA), so eine zentrale Forderung, müsse die umstrittene Regel umgehend stilllegen. So lange das nicht geschehe, sollten Regierungen ihre Förderströme an alle beteiligten Welt- und Nationalverbände einfrieren.

Semenya ist eine Frau, verfügt aber über einen Chromosomensatz, der männliche Eigenschaften herausbildet

Die Debatte um DSD-Athletinnen wie Semenya beschäftigt den Sport seit über einem Jahrzehnt, sie ist wie ein Marathon ohne Ziellinie; was auch daran liegt, dass die Debatte unausweichlich einen Verlierer produziert, wie immer man sie dreht und wendet. Semenya war 2009 in Berlin überraschend zu WM-Gold über 800 Meter gerauscht, binnen eines Jahres hatte sie ihre Bestzeit um 15 Sekunden getrimmt, auf 1:55,45 Minuten. Und Pierre Weiss, damals Generalsekretär des Weltverbandes, halft nicht gerade, das Geraune zu ersticken: "Sie ist eine Frau", sagte er nach Semenyas WM-Erfolg, "aber vielleicht nicht zu 100 Prozent."

Heute weiß man, dass Semenya durchaus als Frau sozialisiert wurde, aber über einen Chromosomensatz verfügt, der männliche Eigenschaften herausbildet: 46 XY heißt die Veranlagung. Die Natur trennt eben nicht so scharf wie der Sport mit seinen binären Kategorien: Schüler, Jugendliche. Männer, Frauen.

Der Weltverband war damit lange überfordert. Er installierte 2011 einen ersten Paragrafen für DSD-Athletinnen: Entweder sie senken ihren Testosteronspiegel, oder sie dürfen bei internationalen Rennen nicht starten. Semenya wählte ersteren Weg, ihre Leistungen sackten bald ab. Später sagte sie, sie habe sich "wie ein Versuchskaninchen" gefühlt, gefüttert mit Medikamenten, im Auftrag der Funktionäre. 2015 setzte der Cas den Paragrafen aus, weil ihm die wissenschaftlichen Belege nicht genügten. Bald lief Semenya wieder alles in Grund und Boden. 2018 publizierte der Weltverband dann eine Studie, die zu bestätigen schien, was viele vermuteten: DSD-Athletinnen seien dank ihrer Testosteronspiegel bis zu 4,5 Prozent leistungsfähiger gegenüber Frauen mit normalen Werten. Eine große Differenz - wenn sie denn stimmt. Also: Wieder Medikamente schlucken, sonst kein Startrecht.

Der Cas klassifizierte die neue Regel im Vorjahr zwar als "diskriminierend"; er hatte auch große Bedenken, weil gesunde Athletinnen nun wieder Medikamente schlucken sollen. Andererseits hielt er die Diskriminierung für ein "notwendiges, angemessenes Mittel". Das Recht der Frauen, die gegen Läuferinnen mit DSD-Veranlagung chancenlos seien, wiege nun mal höher.

Der Leichtathletik-Weltverband weist die Vorwürfe auf SZ-Anfrage zurück

Es ist auch dieser Umstand, der "fundamentale Rechte der Würde und Privatsphäre" verletze, wie der HRW-Report nun argumentiert. Die Autoren des Reports haben im vergangenen Jahr 13 Athletinnen von der "globalen Südhalbkugel" befragt, dazu Trainer, Juristen, Ethiker, Ärzte, Reporter. Ihre Conclusio: Die Leichtathletik, auch das Internationale Olympische Komitee (IOC), würden mit ihren Regelwerken ein Biotop nähren, "das Frauen zu invasiven und unnötigen medizinischen Eingriffen zwingt, um an Wettkämpfen teilzunehmen". Der Leichtathletik-Weltverband weist das auf SZ-Anfrage zurück: Der Bericht sei nicht von unabhängigen Experten verfasst worden, teilt WA mit, ohne Möglichkeit für den Verband, seine Sicht der Dinge darzulegen. Man bleibe "der Fairness für Frauen im Sport verpflichtet" und bestreite, "dass biologische Grenzwerte auf Rassen- oder Geschlechte-Stereotypen beruhen".

Ein Beispiel aus dem neuen Report ist eine als "D.B." anonymisierte Langstreckenläuferin. Dopingtester hatten in einer ihrer Urinproben einen erhöhten Testosteronwert ermittelt, das vermutete "D.B." zumindest. Eine Funktionärin ihres nationalen Verbandes lud sie im März 2014 jedenfalls in ein Krankenhaus, ohne zu sagen, weshalb; so erzählt es die Athletin. Die Ärzte hätten einen Ultraschall und Bluttests veranlasst, die Ergebnisse habe sie nie erfahren. Die Funktionärin habe später nur gesagt, dass der Weltverband auf sie aufmerksam geworden sei und sie zwei Optionen habe: Medikamente oder eine Operation. Mehr nicht.

Fortan sei sie "immer mehr überwacht worden", die Funktionärin habe immer wieder angerufen und zu einer Operation gedrängt. Aber "D.B." war längst skeptisch. Auch ihr Trainer riet von der Operation ab. Sie habe dann "einfach stillgehalten", weiter Rennen bestritten, auch Blut- und Urinproben abgegeben, für Dopingtests. Vor einem Jahr, der Cas hatte den neuen Testosteron-Paragrafen gerade bestätigt, erhielt sie ein Schreiben des Weltverbandes: Ihre internationalen Ergebnisse seien rückwirkend annulliert.

Der HRW-Report illustriert weitere, schockierende Beispiele

Annett Ngesa, eine Mittelstreckenläuferin aus Uganda, traf es weit schlimmer, wie eine ARD-Dokumentation schon 2019 schilderte. Auch ihre Testosteronwerte fielen irgendwann auf, auch sie sei zu Untersuchungen gedrängt worden, erzählte sie, vorgenommen in einem Krankenhaus in Nizza, dessen Ärzte eng mit der WA und anderen Verbänden in DSD-Fragen kooperieren. Auch sie erhielt keine Ergebnisse, nur den Rat, einen Doktor in Ugandas Hauptstadt Kampala zu besuchen. Dort versicherte der Mediziner, er werde "eine einfache OP" vornehmen, "wie eine Injektion". Als Ngesa später aufwachte, habe sie sich über Schnittwunden im Unterleib gewundert. Erst später habe sie erfahren, dass der Arzt eine Orchiektomie durchgeführt hatte - einer Entfernung der Geschlechtsorgane.

Der HRW-Report illustriert weitere, oft schockierende Beispiele: Eine Athletin sei ohne Vorwarnung im Intimbereich untersucht worden, das könnte den "Tatbestand der sexualisierten Gewalt" erfüllen. Sobald Athletinnen von ihren erhöhten Testosteronwerte erführen, würden sie oft häppchenweise informiert, wenn überhaupt. Viele stünden so vor einer "Wahl, die keine ist": entweder Medikamente oder eine OP, oder ihre Karriere sei vorbei. Was ihre Veranlagung damit tun habe? Nebeneffekte? Dass sie natürlich weiter Sport treiben könnten, nur halt nicht bei internationalen Rennen? Das gehe oft unter.

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Der Leichtathletik-Weltverband betont zwar stets, dass man niemanden zur einer OP zwinge - er sieht die Prozedur aber nach wie vor als eine Option. Auch sonst, kritisiert der HRW-Report, trage die WA eine Verantwortung: "Jeder kann bei der medizinischen Abteilung des Weltverbandes Zweifel vorbringen", wird kritisiert, sprich: Jeder kann Athletinnen anschwärzen. Das, so eine zentrale Kritik des Reports, setze "alle Athletinnen einer ständigen und willkürlichen Überwachung aus".

Und natürlich, so die Autoren, reißen die Regularien auch tiefe Furchen in das Leben der Athletinnen. Oft würden Testergebnisse an Medien durchsickern; auch das Angebot des Weltverbandes, eine dritte Startklasse einzurichten oder DSD-Frauen bei den Männern starten zu lassen, würde die Athletinnen unweigerlich in die Öffentlichkeit rücken. Das damit verknüpfte soziale Stigma sei gewaltig, vor allem in patriarchalischen Gesellschaften, aus denen viele der betroffenen Athletinnen stammen. Anett Ngesa zum Beispiel: Sie verlor nach ihrer ungewollten OP erst ihre Form, dann ihr Universitäts-Stipendium, schließlich die Anerkennung ihrer Heimatgemeinde. Als der Druck zu groß wurde, floh sie nach Deutschland, 2019 gewährte ihr die Bundesrepublik Asyl. Andere Befragte im HRW-Report berichten, dass ihre Betreuer empfahlen, Make-up oder ausgestopfte BHs zu tragen, "um mehr wie Frauen auszusehen". Manchen sei zu "kosmetischen Genitaloperationen" geraten worden.

Unter all den schlechten Lösungen muss die beste gefunden werden

Funktionäre wie Stéphane Bermon, der seit 2018 das Gesundheits- und Wissenschaftsressort im Weltverband leitet, würden die Debatte zusätzlich vergiften, so der Report. Bermon hatte erst im Vorjahr gesagt: Er verstehe nicht, "dass sich diese Athletinnen einer Behandlung widersetzen, die ihre feminine Identität bestärkt".

Bermon war es auch, der die jüngste Studie des Weltverbands maßgeblich entwarf, auf der die neue Testosteronregelung fußt. Die Studie steckt längst in der Kritik: Bis zu ein Drittel der Werte seien falsch, bemängelten Wissenschaftler; manche Daten seien doppelt gezählt worden, andere konnten keiner Athletin zugeordnet werden. Andere Experten bemängeln, dass Testosteron alleine nicht den großen Vorteil von DSD-Athletinnen begründen könne, den diese zweifellos genießen. Die Gerichte, die mit dem Fall befasst waren, sahen das bislang freilich anders. Darauf verweist auch der Weltverband: Er halte seinen Paragrafen für "objektiv" und wissenschaftlich fundiert, das Reglement diene somit "der Erhaltung eines fairen und sinnvollen Wettbewerbs in der weiblichen Kategorie".

Das berührt wiederum das Kernproblem, das auch der HRW-Report umschifft: dass Leichtathletik-Wettbewerb ohne Grenzwerte für DSD-Athletinnen, so wie es die Menschenrechtsorganisation fordert, den Wettbewerb auch wieder einer gewaltigen Schieflage unterwürfe. Dieses Dilemma versinnlicht das 800-Meter-Frauenfinale der vergangenen Sommerspiele. 2016 in Rio de Janeiro, stürmte Semenya allen davon, hinter ihr, ungefährdet vom Rest des Feldes, rannten zwei weitere, mutmaßliche DSD-Athletinnen zu Silber und Bronze, Francine Nyonsaba (Burundi) und Margaret Wambui (Kenia).

Andererseits: So stur und unsensibel, wie der Sport dieses Thema aktuell moderiert, kann es kaum bleiben. Alternativen? Wohl jene, dass unter allen schlechten Lösungen die beste gefunden werden muss, mit klareren Kriterien etwa, wie DSD-Athletinnen beraten werden sollten. Was der HRW-Report zweifellos gezeigt hat: dass dieser Prozess nicht länger über die Köpfe - oder gar die Rechte - der Betroffenen hinweg geführt werden darf.

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