Leichtathletik:Brunftschreie in Südschweden

Sebastian Coe

Hat derzeit viel zu grübeln: Weltverbands-Chef Sebastian Coe.

(Foto: Mike Egerton/dpa)

Wie viele Kollegen aus den Spielsportligen, rüsten sich auch Individualsportarten wie die Leichtathletik für einen verspäteten Saisoneinstieg noch in diesem Jahr.

Von Johannes Knuth

Schweden ist eines der wenigen Länder weltweit, das derzeit auch Sportveranstaltungen noch erlaubt, und so schaffte es ein kleines Werfermeeting in der südschwedischen Universitätsstadt Växjö über die Osterfeiertage zu unverhoffter Prominenz. In einem Video auf dem Internetauftritt des Leichtathletik-Weltverbandes sah man, wie der Schwede Simon Pettersson mit 66,93 Metern eine persönliche Bestleistung aufstellte, oder besser: Man sah nur, wie er sich drehte, den Diskus losließ und einen Schrei absetzte, der einem Elch durchaus zur Ehre gereichte. Das Ganze in einem Ring ohne Sicherheitsnetz übrigens, dafür vor fröhlich klatschenden Zuschauern. Der Weltverband würdigte in seinem Nachbericht jedenfalls nicht nur den Tagessieger, er vermeldete auch pflichtbewusst die Siegerin der Frauen (Fanny Roos mit 59,76 Metern) und vergaß nicht zu erwähnen, dass der tüchtige Pettersson sich nun auf den dritten Rang der aktuellen Weltbestenliste geschoben hat.

Die Sehnsucht nach Normalität hängt gerade also auch schwer über der Leichtathletik, vor allem in diesen Tagen, da der Sport für gewöhnlich aus seinem Winterschlaf erwacht. Aber Olympias Kernübung liegt derzeit natürlich so still wie die restliche Gesellschaft, der olympische Fixstern ist in den kommenden Sommer gerückt, auch Weltbestenlisten sind weitgehend wertlos. "Niemand von uns kann in diesen beispiellosen Zeiten die Zukunft vorhersagen", verkündete Weltverbands-Präsident Sebastian Coe am Wochenende in einer Art Osterbotschaft, ehe er seiner Gemeinde mit einem kleinen Mutmacher offenbar das Fest versüßen wollte: Man bastele derzeit an einer verspäteten Wettkampfsaison, bestätigte der Brite, schon im kommenden Herbst könnte es so weit sein.

Als Startschuss habe man das Wochenende am 8./9. August reserviert, die Nationalverbände sollen dann ihre Meisterschaften austragen. Nationale Titelkämpfe, so das Kalkül, lassen sich wohl erst mal leichter durchdrücken als solche mit internationaler Kundschaft. Daran könnte sich eine kurze Saison mit internationalen Meetings anschließen, auch die August-EM 2020 in Paris steht derzeit noch im Kalender. Wobei Coe mahnte, dass alle Pläne davon abhängen, wie sehr sich die Corona-Pandemie weiterverbreite. Eine Umfrage des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) unter seinen Topathleten stützte jedenfalls die These, wonach sich viele Sportler baldige Wettkämpfe wünschen, vor allem, um für den Olympiasommer 2021 in Schwung zu kommen. Nur wenige sehen es wie Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler, der sagte, er wolle sich "nicht in gefährliche Grauzonen bewegen, um unbedingt zu reisen und Wettkämpfe zu machen." Und Meetings ohne Zuschauer seien für ihn ohnehin keine Wettkämpfe, "dann kann ich auch trainieren".

Sportlich gesehen wären derartige Wettkämpfe ohnehin nur bedingt aussagekräftig. Der Weltverband hatte die Olympiaqualifikation für dieses Jahr zuletzt gänzlich eingefroren - und auf die weltweite Chancenungleichheit verwiesen. Allerdings stecken hinter den akuten Bemühungen auch wirtschaftliche Motive, wenn auch mit weniger Nullen in der Rechnung als im Fußball. Nicht nur Verbände und Veranstalter, auch die Athleten sind auf Meetings mit ihren Start- und Preisgelder angewiesen: "Das sind Gelder, mit denen wir Athleten, unabhängig von einer Sportförderstelle, fest planen", sagte Sprinterin Lisa Mayer jetzt. Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo hatte dank ihrer drei Siege in der letztjährigen Diamond League, der höchsten Meeting-Serie, allein 70 000 Dollar verdient, auch wenn das Gefälle hinter derartigen Topleistern enorm ist.

Was die Machbarkeit ihres Spätsommer-Projekts betrifft, steht die Leichtathletik allerdings vor bekannten Problemen. Sportevents vor Zuschauern, bekräftigte der Epidemiologie Zach Binney zuletzt in der amerikanischen Zeitschrift Sports Illustrated, seien erst denkbar, wenn es einen Impfstoff gebe. Der sei, vorbehaltlich eines medizinischen Wunders, frühestens in zwölf, eher in 18 Monaten verfügbar. Viele Leichtathletik-Meetings finanzieren sich allerdings weniger aus TV-Verträgen, sondern aus Zuschauereinnahmen. Wenn ein Meeting-Chef möchte, dass das Fernsehen überträgt, muss er dafür sogar oft den Sender bezahlen. Für die nationalen Meisterschaften in diesem Jahr in Braunschweug arbeiten sie laut DLV derzeit an Alternativen, ob das Ganze wirklich Anfang August stattfinden könne, hänge aber davon ab, wie sich die Pandemie entwickele. DLV-Generaldirektor Idriss Gonschinska bestätigte am Dienstag auch, dass man an einem Szenario mit und ohne Zuschauer arbeite. Sollte Letzteres eintreten, träfe die Ausrichtern ein "nicht unerheblicher finanzieller Verlust - pro DM-Tag hatten wir vor der Pandemie mit 18 000 Zuschauern kalkuliert".

Einen Vorteil hätte die Geister-Leichtathletik immerhin gegenüber vielen Spielsportarten: den fehlenden Körperkontakt, die Mittel- und Langstrecke ausgenommen. Aber selbst eine Individualsportart müsste für derartige Formate enorme Anstrengungen unternehmen, wie der amerikanische Virologe Carl Bergstrom zuletzt ausführte: Alle Beteiligten müssten im Vorfeld streng getestet werden oder gar in Quarantäne, Athleten, Betreuer, Kampfrichter, Helfer, Busfahrer, auch das medizinische Personal, das erst einmal verfügbar sein müsste. Und ein Positivtest würde reichen, und die improvisierte Wettkampfsaison würden zusammenbrechen wie ein wackeliger Baustein-Turm. Und überhaupt: "Als Vorbild", gibt die deutsche Kugelstoßerin Christina Schwanitz zu bedenken, "geht man bei Wettkämpfen ohne Zuschauer sicher nicht an den Start."

Viele Leichtathleten sind noch aus einem anderen Grund skeptisch: 78 Prozent (von knapp 700 Athleten aus 85 Ländern) sagten jüngst in einer Umfrage der unabhängigen Organisation "Athletics Association", sie würden den stark eingeschränkten Dopingtests in dieser Saison misstrauen - und damit indirekt auch der Redlichkeit ihrer Mitbewerber. Die Sehnsucht nach Normalität wird wohl noch länger über dem Sport liegen, als vielen lieb ist.

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