Leichtathletik:Albtraum mit Speer

Nachdem der franzözische Weitspringer Salim Sdiri in Rom von einem Speer getroffen wurde, diskutiert die Leichtathletik ihre innere Sicherheit.

Thomas Hahn

Zur Diagnose gehörte auch die Erkenntnis, dass seine Muskeln Salim Sdiri das Leben gerettet hatten bei diesem makabren Unfall, der den französischen Weitspringer aus Ajaccio unfreiwillig weltberühmt machte. Es war kurz nach zehn am Freitagabend beim Golden-League-Meeting im Olympiastadion von Rom, als dem Speerwerfer Tero Pitkämäki, dem EM-Zweiten aus Finnland, ein Versuch so eklatant missriet, dass sein Gerät fast zehn Meter neben dem Sektor nahe der Weitsprunggrube landete und sich in Sdiris Rücken bohrte. Es war ein Unfall, wie er nur in Albträumen vorkommt.

Speerwurf Salim Sdiri

Salim Sdiri, Opfer von Rom.

(Foto: Foto: dpa)

Der Speer steckte, den Umstehenden stand der Horror im Gesicht, Pitkämäki wandte sich erschüttert ab, der Krankenwagen kam. Aus der Poliklinik Gemelli kam wenig später die beruhigende Nachricht, dass Sdiris Verletzungen sich im Rahmen hielten, am nächsten Tag wurde der Befund öffentlich: Salim Sdiri hat ein Haut-Emphysem, eine Art Lufttasche unter der Haut, davongetragen, eine Muskelverletzung und eine Wunde von drei Zentimetern Größe und sieben Zentimetern Tiefe. Ein Wunder? Eher Sdiris starker Körper. ,,Bei jemandem wie Ihnen oder mir wäre der Speer viel tiefer in den Körper eingedrungen und hätte ein Organ berühren können'', sagt Marc Michkowski, der Physiotherapeut der französischen Leichtathleten.

Sdiri ist zurück im Krankenhaus

Es ist ein altes Problem, dass in der Leichtathletik jemandem der Himmel auf den Kopf fallen kann. Ralf Wollbrück, Disziplintrainer Speerwurf im Deutschen Leichtathletik-Verband, weiß fürchterliche Geschichten zu erzählen von Speeren, die sich in Arme unaufmerksamer Kampfrichter bohrten, oder fehlgeleitete Hämmer, die auf der Tartanbahn auftitschten und in die Zuschauertribünen rauschten. Vor allem im Trainingsbetrieb besteht die ständige Gefahr, dass Werfer andere Athleten oder Umstehende treffen. Anfang des Jahres bohrte sich der Speer eines einheimischen Sportlers im Trainingslager in Potchefstroom/Südafrika in die Schulter des Zehnkampf-Weltrekordlers Roman Sebrle; der Tscheche kam mit einer Fleischwunde davon. Der deutsche Speerwerfer Peter Esenwein wählt deshalb daheim in Holzhausen Trainingszeiten, zu denen wenig los ist auf dem Platz - oder er schickt die Leute weg. ,,Wenn die Fußball spielen - das irritiert mich'', sagt Esenwein. Für ihn ist der Unfall von Rom ,,wieder ein Warnsignal, dass man am Speerwurfsektor aufpassen muss''.

Am Abend des Unglücks selbst fand die Elite erstaunlich schnell zu ihrer Konzentration zurück. Italiens Weitsprung-Europameister Andrew Howe stand direkt daneben, als Sdiri in die Knie ging. Er war sehr aufgebracht, er erkannte, wie knapp er selbst Pitkämäkis Speer entkommen war, er dachte: ,,Das hättest du sein können.'' Dann beruhigte er sich wieder und erzielte Tagesbestweite von 8,12 Meter. Auch 100-Meter-Weltrekordler Asafa Powell sprintete unbeeindruckt zum Sieg in 9,90 Sekunden. Jene, die durch ihren dritten Sieg beim dritten von sechs Golden-League-Meetings im Rennen um den Jackpot von einer Million Dollar verblieben waren - Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa (4,90 Meter), Hürdensprinterin Michelle Perry (12,44 Sekunden) und 400-Meter-Läuferin Sanya Richards (49,77 Sekunden) -, ernteten den Applaus eines pragmatischen Publikums. Und Pitkämäki brachte es mit stattlichen 86,09 Metern immerhin auf Platz zwei hinter Norwegens Andreas Thorkildsen (88,36).

Aber natürlich musste dem Schrecken eine Debatte über die innere Sicherheit der Leichtathletik folgen. ,,Ich glaube, dass man uns nicht dafür verantwortlich machen kann, was passiert ist'', sagte Roms Meeting-Direktor Luigi D'Onofrio in L'Equipe, ,,ich habe so etwas in meiner ganzen Karriere noch nicht gesehen. Der Speer ist acht Meter neben dem Sektor gegangen. So etwas kann man sich nicht vorstellen. Auf jeden Fall gibt es keine Regel, alles im Stadion war nach der Norm.'' Die Gegenmeinung drückte Renaud Longuèvre aus, der Trainer des Hürdensprint-Weltmeisters und Sdiri-Freundes Ladji Doucouré. ,,Sie müssen das Schlimmste voraussehen'', sagte er, ,,so wie das Olympiastadion gebaut ist, kann man nicht Weitsprung und Speerwurf gleichzeitig stattfinden lassen.''

Salim Sdiri, 28, hat das auch so gesehen. Pitkämäki machte er keinen Vorwurf. Er traf ihn noch Freitagnacht in der Hotellobby, als er aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Pitkämäki entschuldigte sich. Sdiri sagte, dass es nicht sein Fehler gewesen sei. Es ging ihm nicht gut, als er am Samstag davon erzählte, er hatte Mühe beim Atmen, die Wunde machte ihm zu schaffen, wegen der er am Sonntag auch ins Krankenhaus zurückkehrte, weil sich ein Hämatom gebildet hatte. Aber er hatte genug Kraft, um zu sagen, was für ihn dieser Unfall war: das Zeichen für den Weltverband IAAF etwas zu ändern. ,,Sie müssen die Würfe im Stadion machen, aber vor oder nach den Wettkämpfen, wenn niemand mehr auf der Bahn ist oder auf den Sprunganlagen'', sagte er. Es war ihm wichtig. ,,Auf was warten sie? Darauf, dass es einen Toten gibt, oder was?''

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