Süddeutsche Zeitung

European Championships:An einem windigen Abend in der Riesenschüssel

Frisch und regnerisch: Bei schwierigen Bedingungen springen Weitspringerin Malaika Mihambo und Hochspringer Tobias Potye zu Silber. Konstanze Klosterhalfen gewinnt gar Gold über 5000 Meter - und alle Athleten überraschen auf ihre Weise.

Aus dem Stadion von Johannes Knuth

Der schottische Fußballkommentator Andy Gray hat es vor einer Weile zu einiger Berühmtheit gebracht, mit einer kleinen Abhandlung darüber, wie man wahre Größe bemisst. Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, die damals schon bekanntesten Samtfüße des Fußballuniversums, schön und gut, lästerte Gray. Aber wenn man die beiden mal aus der kuschelig warmen Primera Division befreien würde, sähe es bestimmt ganz anders aus. "Sie hätten es schwer an einem kalten Abend im Britannia Stadium", sagte Gray, wo die Mannschaft Stoke FC damals stolz den Ruf verteidigte, Gästeteams besonders beherzt wegzugrätschen.

Und auch wenn die Langstreckenläuferin Konstanze Klosterhalfen, die Weitspringerin Malaika Mihambo und der Hochspringer Tobias Potye mit britischem Fußball in etwa so viel zu tun haben wie schottischer Whiskey mit Kamillentee: Das Olympiastadion in München, wo sich die drei deutschen Leichtathleten am Donnerstagabend um Europameisterschafts-Weihen bewarben, versetzte sich phasenweise in beste Stoke-Stimmung: windig, frisch, zeitweise ganz schön regnerisch.

Olympiasiegerin, Lauf-Rekordhalterin, Hochsprung-Ästhet, schön und gut. Aber können sie es auch an einem zugigen Abend in der Münchner Riesenschüssel?

Sie konnten. Silber für Malaika Mihambo, das war zwar ein minimaler Ausreißer nach unten, auch wenn die 28-Jährige mit ihren 7,03 Metern nicht in tiefe Depressionen verfallen dürfte, nach frisch überstandener Corona-Infektion. Dafür trug Tobias Potye mit 2,27 Metern eine Silbermedaille in die Wertung, Konstanze Klosterhalfen nach 14:50,47 Minuten über 5000 Meter sogar den fünften deutschen Goldgewinn dieser Leichtathletik-Europameisterschaften, was durchaus überraschend kam - auf sehr unterschiedliche Weise.

Das Münchner Leichtathletikpublikum litt am Donnerstagvormittag offenbar noch an einem leichten Kater nach dem Rausch vom Dienstag, die Veranstalter probierten über den Tag jedenfalls, die doch recht teuren Tickets spontan unter die Leute zu bringen. Wer ein Online-Ticket erstand, bekam mit dem Rabattcode "Mihambo" ein zweites gratis dazu. Und wie auch immer sie es anstellten: Die Menschen kamen, trotz Wind, Regen und Kälte, und machten so zupackend weiter, wie sie am Dienstag aufgehört hatten. Sie feierten Joshua Hartmann wie einen Europameister, als der das Finale über 200 Meter erreichte, auch Mihambo überschütteten sie mit Applaus - als diese sich gerade einlief.

Erst mal waren aber die Hochspringer dran, Jonas Wagner, Tobias Potye von der LG Stadtwerke München, der Gastgeber des Abends, und Mateusz Przybylko, der Europameister aus Berlin; wobei der 30-Jährige gerade nicht mehr die 2,35-Meter-Form von damals mit sich führt. Das zeigte sich dann auch an Rang sechs, mit 2,23 Metern. Dafür zeigte Potye, dass er durchaus seine 2,30-Meter-Form vom Juni bei sich hatte, als er sich mit Przybylko den deutschen Titel geteilt hatte: 2,18, 2,23, 2,27, alles meisterte er im ersten Versuch - das konnte an so einem regnerischen Abend mit rutschigem Anlauf viel Wert sein.

Und tatsächlich: Weil der Ukrainer Oleg Doroshchuk die 2,27 Meter knapp riss und 2,30 ebenfalls nicht schaffte, machte Potye mit zwei Branchengrößen bei 2,30 Metern schon die Medaillen aus: dem Olympiasieger Gianmarco Tamberi sowie dem WM-Dritten Andrij Protsenko aus der Ukraine. Der Italiener wand sich noch über die Höhe, der Meister des großen Moments, aber Protsenko hielt Potye hinter sich: Silber für den 27-Jährigen, in seinem erst dritten internationalen Freiluft-Wettstreit und nach verletzungsgetränkten Jahren, in denen er an seiner Leistungsportlaufbahn fast verzweifelt war. "Hat echt Bock gemacht", sagte Potye ins Stadionmikrofon, viel mehr Überschwang kitzelte man nicht aus ihm heraus. Aber dafür gab es ja noch ein paar Helfer auf den Rängen.

Und Mihambo? Sie hatte in der Qualifikation schon wieder 6,99 Meter angeboten, der Corona-Infekt, den sie nach ihrem WM-Gewinn aus Eugene mitgebracht hatte, wirkte plötzlich weit weg. Erst nach härteren Belastungen fühle sie sich noch etwas müde, sagte sie, aber das würde ihr der Nervenkitzel schon austreiben. Und den besorgte Ivana Vuleta, unter ihrem Mädchennamen Spanovic 2016 Europameisterin und Olympia-Dritte. Das war schon ein kleiner Wirkungstreffer. Mihambo konterte mit 6,71, im zweiten Versuch flog sie auf 7,03, jetzt war es ein Match. Aber so richtig konnte die 28-Jährige die letzten Kräfte nicht freilegen. 6,86, 6,95, ungültig, noch mal 6,99. Vielleicht kosteten die Spätfolgen des Virus' doch die letzten paar Prozent an Schubkraft. "Vielleicht hat auch ein bisschen das Glück mit dem Wind gefehlt", sagte Mihambo mit einem Lächeln, das verhieß: Die Freude über ihre dritte EM-Medaille würde wohl erst später in sie hineinsinken.

Kurz darauf geriet das alles ohnehin in den Hintergrund, als Mihambo noch im Stadion einen Kreislaufkollaps erlitt. Der deutsche Verband teilte in der Nacht mit, dass es Mihambo schon wieder besser gehe.

Der Abend hatte da schon seine goldene Pointe aus deutscher Sicht, fast wie bei Gina Lückenkempers finalem Tusch am Dienstag: Klosterhalfens Steigerungslauf trug sie zu ihrem ersten EM-Einzelgewinn bei den Aktiven. Am Mittwoch hatte Annett Stein, die deutsche Cheftrainerin, noch mal betont, dass vor allem Klosterhalfen die Nachwehen ihrer Covid-Infektion merklich spüre. Und es ging auch erst mal so los, wie es ihr nicht schmeckt: langsam. Als Yasemin Can, die 10 000-Meter-Europameisterin vom Montag, sechs Runden vor Schluss wieder einen Ausreißversuch startete, setzte Klosterhalfen als Erste nach, jetzt hatte sie doch noch ihr schnelles Rennen.

Die starke Norwegerin Karoline Grovdal stieg kurz darauf aus, das war eine Überraschung. Und Klosterhalfen spielte das, was sie wieder an Kräften hatte, perfekt aus. Setzte nach, hatte die Britin Eilish McCoglan, Zweite über 10 000 Meter, bald abgeschüttelt, sah, wie Can allmählich die Kräfte entwichen. Führte ihren langen Schlusssprint auf, als würde eine Radfahrerin die Verfolgerinnen nach und nach am Berg abschütteln. "Einer der schönsten Läufe meines Lebens", sagte Klosterhalfen. Der Rest versank im Jubel, wieder einmal.

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