Süddeutsche Zeitung

Leicester City:Der Underdog zaubert wieder

Leicester City, Überraschungsmeister von 2016, tritt an zum Millionenspiel um einen Champions-League-Platz. Dabei kann der kleine Klub aus den Midlands Manchester United und Chelsea eins auswischen.

Von Sven Haist, Leicester

Tief im Herzen von Leicester City hat Khun Vichai Srivaddhanaprabha nach wie vor seinen Platz. Obwohl der beliebte thailändische Klubeigentümer im Oktober 2018 mit vier weiteren Menschen bei einem Helikopterabsturz, direkt am eigenen Stadion, ums Leben gekommen ist, führt ihn der Klub weiterhin als Chairman an erster Stelle seiner Hierarchie auf. Erst nach ihm folgen im Organigramm seine beiden Söhne: Aiyawatt, der die Position des Vaters als Vorsitzender übernahm, und Apichet in der Rolle des Stellvertreters. Dazu: Geschäftsführerin Susan Whelan und Fußballdirektor Jon Rudkin. In Erinnerung an die Lebensleistung des 60 Jahre alt gewordenen Khun Vichai - eine Anrede für verdiente Personen im Königreich Thailand - hat Leicester einen Memorial Garden errichtet und einen Antrag gestellt für eine fünf Meter hohe Bronzestatue vor der Arena. Ein respektvolles Verhältnis zu den Mitmenschen stand auch für Srivaddhanaprabha immer im Mittelpunkt seines Wirkens.

Für etwa 50 Millionen Euro kaufte 2010 ein asiatisches Investorenkonsortium unter Obhut von Srivaddhanaprabha das damals zweitklassige Leicester. Zwei Jahre später ging der Verein aus der Landesmitte voll ins Portfolio der King Power International Group über. Den in Thailand eingetragenen Duty-Free-Giganten baute Srivaddhanaprabha selbst auf, die Firma hielt er im Familienbesitz.

Triumphe und Tragödien

Sein auf fünf Milliarden Euro taxiertes Erbe wurde nach dem Unglück der Gattin Aimon und vier Kindern zuteil, die nun über den Mutterkonzern die Anteile an Leicester City halten. Mit 55 Prozent ist Sohn Aiyawatt Haupteigner, 15 Prozent gehören der Ehefrau, der Rest ist zu je zehn Prozent auf Sohn Apichet und die Töchter Voramas und Aroonroong verteilt. Durch diese klare Nachfolgeregelung entstand im Klub nie ein Entscheidungsvakuum oder gar Verteilungskampf. Das Lebenswerk des Khun Vichai soll erfolgreich fortgeführt werden. Dabei hilft, dass die in der Branche geschätzte Klubchefin Whelan beruflich bereits seit 1999 mit King Power verbandelt ist, im selben Jahr kam auch schon Fußballboss Rudkin.

Trotz der Triumphe und Tragödien, die Leicester City in kürzester Zeit überkamen, konnte sich der Verein sein Karma bewahren. Der Umgang des Klubs mit seinem Meisterteam von 2016, das als 5000:1-Außenseiter mit einem Retrospielstil unter Trainer Claudio Ranieri aus den Tiefen des Abstiegskampfes an die Spitze der Premier League gesprungen war, gilt als Beweis dafür, wie sich Vergangenheit honorieren lässt, ohne die Zukunft zu vernachlässigen. Von den damaligen Stammspielern Schmeichel, Simpson, Morgan, Huth, Fuchs, Drinkwater, Kanté, Mahrez, Albrighton, Okazaki und Vardy, an die sich jeder in Leicester lebenslang erinnern wird, sind die meisten weg - ohne je ein schlechtes Wort über den Klub verloren zu haben. Guten Gewissens konnte man auf dieser Basis das Team erneuern, das heute kaum noch etwas gemein hat mit den früheren Himmelsstürmern.

Als Lohn dafür, dem eigenen Weg stets treu geblieben zu sein, steht Leicester nun am Sonntag, dem letzten Liga-Spieltag der Saison, ein Revival des Duells zwischen Underdog und Goliath bevor. Im Millionenspiel um die verbliebenen Qualifikationsplätze zur Champions League könnte der Klub aus den Midlands den Branchengrößen Manchester United und FC Chelsea eins auswischen. In der Tabelle liegt United als Dritter gleichauf mit Chelsea, dahinter lauert Leicester mit nur einem Punkt weniger. Im direkten Duell daheim gegen United reicht daher ein Sieg für die Königsklasse; wegen des besseren Torverhältnisses würde selbst ein Unentschieden genügen, wenn Chelsea gegen die Wolverhampton Wanderers verliert, die noch um die Europa League kämpfen.

Trotz des ständigen Verlusts der talentiertesten Spieler und schlauesten Kaderstrategen gelang Leicester City weitgehend der Kniff, immer neue Asse aus dem Ärmel zu zaubern. Der markanteste Coup war im Februar 2019 die Verpflichtung des renommierten Trainers Brendan Rodgers, der 2014 mit einem ansehnlichen Spielstil beinahe Liverpool zum Meistertitel geführt hätte. Durch die Einnahmen aus den Verkäufen von Kanté (35 Millionen/Chelsea), Mahrez (67/Manchester City) und Harry Maguire (87/Manchester United) war Leicester zuletzt in der Lage, zu Eigengewächsen wie Ben Chilwell, Harvey Barnes und Hamza Choudhury sehr begabte junge Spieler wie James Madison, Ricardo Pereira, Caglar Söyüncü (früher Freiburg) und Youri Tielemans zu holen.

Mit ihnen und den letzten Helden von 2016, Torwart Kasper Schmeichel und Torjäger Jamie Vardy, formte Rodgers ein spielstarkes Team, das die meisten Gegner aus den Angeln hob - bis die Corona-Pause kam. Seitdem gewann das lange auf Platz drei liegende Leicester nur noch zwei von neun Ligapartien.

Neben der angepassten Spielweise der Gegner, die sich an den Strafraum zurückziehen und auf Konter spekulieren, haben Leicester einige Ausfälle hart getroffen. Söyüncü ist gesperrt, Chilwell und Pereira sind verletzt, damit fehlen drei Viertel der Abwehrkette. Auch der angeschlagene Spielmacher Madison fällt aus. An Erfahrung fehlt es dem Team im engen Saisonendspurt sowieso - kürzlich verspielte es in Bournemouth innerhalb von 210 Sekunden einen sicher geglaubten Sieg.

Aber sie haben ja noch Vardy: Mit 23 Toren liegt der Talisman des Teams auf Platz eins der besten Ligaschützen. Nach Klublegende Gary Lineker, der sich 1985 den Goldenen Schuh mit Kerry Dixon teilen musste, könnte Vardy, 33, der erste alleinige Inhaber der Trophäe aus Leicester City werden. Dann würde er noch einmal Geschichte schreiben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4978705
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.07.2020/sonn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.